Die Realität in Palästina ist so krank, dass es jede Vorstellungskraft übersteigt
von Melkam Lidet
Vergangenen Samstag fuhren meine Freunde und ich nach Jayouss, einem Bauerndorf im nordwestlichen Teil der West Bank, nahe der von Israel errichteten Teilungsmauer.
Jayouss ist eines der palästinensischen Dörfer, das 2005 einen gewaltlosen Kampf gegen die Errichtung der Mauer gewann, der zu einem Gerichtsurteil führte, welches die Änderung des Verlaufs der Mauer anordnete.
Während diese Änderung dem Dorf ein paar Dunam (= 1.000 m²) Land zurückgab, verbleiben 75% der landwirtschaftlichen Nutzfläche noch immer in der „Gürtelzone,“ eingesperrt zwischen der Grünen Linie und der Teilungsmauer. In der Folge müssen die Bauern jetzt Bewilligungen einholen, um durch die Abgrenzung zu ihren Anbauflächen zu kommen. Die Bestimmungen darüber, wer überhaupt eine Bewilligung bekommt und über den „Zutritt“ sind weder eindeutig noch gleichbleibend.
Anfänglich wurden viele Bewilligungen nahezu für jeden im Dorf ausgestellt: für Kinder, Jugendliche, Alte und sogar für Verstorbene. In der Annahme, dass die Zurückweisung dieser Bewilligungen zum völligen Verlust ihres Landes führen würde, nahmen viele Jayoussis ihre Zuteilung an und akzeptierten die Bewilligungen.
Aber mit der Zeit begannen die israelischen Behörden damit, die Verlängerung von Bewilligungen zu verweigern. Ein Kind oder ein älteres Haushaltsmitglied hätten eine Bewilligung bekommen, aber den Erwachsenen, die die landwirtschaftliche Arbeit verrichten konnten, wurde diese verweigert; oder nur die eine Person, die auf der Besitzurkunde aufscheint, hätte die Bewilligung bekommen, aber nicht deren Kinder oder andere Familienmitglieder; oder die Bewilligung hätte nur für die Anpflanzungszeit gegolten, aber nicht für die Ernte, und eine Familie hätte ihre Ernte verloren oder andere bitten oder bezahlen müssen, um für sie ihre Ernte einzubringen.
Darüber hinaus benützt die israelische Armee das Bewilligungssystem als Abschreckung gegen Proteste: Familien, bei deren Kindern Gefängnis oder Anhaltung im Strafregister aufscheinen, kriegen keine Bewilligung. Ausgehend von den ständigen Militärrazzien, Protesten und Verhaftungen oder Anhaltungen von männlichen Jugendlichen wird dieses System oft als Werkzeug benützt, um politische Aktivitäten und Widerstand gegen die Okkupation zu unterdrücken.
Aber die Eigenartigkeit und Unvorhersehbarkeit des Bewilligungsystems ist nicht die einzige Sorge, die die Bauern von Jayouss und ihre Familien plagt. Sogar wenn sie eine Bewilligung haben, müssen die Bauern auf die kurzen Öffnungszeiten der Kontrollstellen warten, höchstens dreimal am Tag und nicht länger als eine Stunde, ehe sie auf ihre Felder gehen können.
Sie müssen sich nach den Dienstzeiten der Soldaten richten, welche vielleicht rechtzeitig oder nicht oder überhaupt nicht kommen, und ihre Anweisungen befolgen, je nach deren Stimmung oder nach dem neuen „Armeebefehl“ des Tages. Darüber hinaus liegen vier der sechs Quellen des Dorfes hinter der Mauer und werden von den israelischen Behörden verwaltet, welche eine Zuteilungsquote angeordnet und ein Messgerät für den landwirtschaftlichen Wasserverbrauch installiert haben. Wenn der Verbrauch die Quote übersteigt, müssen die Bauern dafür extra bezahlen.
Interessant an Jayouss und den Auswirkungen der Okkupation auf das Dorf ist, wie die Okkupation ohne verbindliche Richtlinien funktioniert. Die Regelungen sind zufällig, widersprüchlich, unvorhersehbar und bizarr. Was heute an einem Durchgang bei einem Soldaten funktioniert, kann morgen an dem gleichen Durchgang mit dem selben Soldaten nicht funktionieren. Man kann sich auf nichts verlassen; alles hängt von allem anderen ab.
Zum Beispiel kann dein Traktor eine Bewilligung bekommen, dein Jeep für die Wintermonate aber nicht. Deine Kinder bekommen vielleicht keine Bewilligung, aber deine Angestellten. Du oder deine Kinder haben vielleicht „Geschäftsbewilligungen“, mit denen man sich in ganz Israel bewegen kann, aber deine Anbaufläche ist vielleicht unzugänglich „aus Sicherheitsgründen.“ Und das letzte und absurdeste, was ich gehört habe: du kannst keinen Esel mitnehmen, wenn du unter 45 Jahre alt bist. Dein 70-jähriger Vater kann jedoch kommen, mit dem selben Esel durch die Kontrollstelle gehen, ihn dir auf der anderen Seite übergeben, vor dem Soldaten, und zurück ins Dorf gehen, während du aufs Feld gehst!
Als ich diese Geschichten hörte, versuchte mein vernünftiges, rationales „Ich” irgendeine Art von Begründung für diese „Anweisungen“ zu finden, irgendeine Art von gesunder Begründung, egal wie ungerechtfertigt diese auch sein mochte. Diese Art von Absurdidät schien mir einfach nicht nachvollziehbar zu sein, nicht einmal unter den Standards und Regeln der israelischen Okkupation. Ich war überzeugt, dass da mehr dahinter stecken musste als nur ein Auftrag, Menschen zu frustrieren, ein „rationaler“ Vorwand welcher Art auch immer, der sich hinter einem „das ist eine neue Bestimmung, du darfst nicht mit deinem Esel durchgehen, wenn du jünger bist als 45“ verbirgt. Aber ich konnte keinen finden.
Die Wahrheit ist, dass die Rationalität hinter diesen unsinnigen, unvorhersehbaren und widersprüchlichen Regelungen nur erkennbar ist, wenn man das größere Bild der israelischen Okkupation vor Augen hat: Hier geht es darum, mehr von Palästina zu bekommen, aber ohne Palästinenser. Je mehr frustriert, gespalten, eingesperrt, verarmt, ausgewandert oder tot die Palästinenser sind, desto mehr Land kann annektiert, kultiviert, besiedelt und Zion genannt werden.
Die Wahrheit ist, dass jemand, der nicht in Palästina war und die Übergriffe und Ungerechtigkeiten selbst sehen konnte, denen die Palästinenser aufgrund der Okkupation ausgesetzt sind, über diese Art von Geschichten ungläubig spotten wird, weil sie zu unerhört sind, um wahr zu sein.
Die Wahrheit ist aber: Die Realität in Palästina ist so krank, dass es jede Vorstellungskraft übersteigt.
Der Artikel erschien am 4. September 2012 in > The Daily Star (Libanon) > und > MIFTAH >
Übersetzt aus dem englischen von Klaus Madersbacher und veröffentlicht auf seiner Webseite http://www.antikrieg.com