Palästina-Israel - Info & Gedanken Nr. 32
von Siegfried Ullmann
Liebe Friedensfreunde, Israel-Unterstützer und Nahost-Interessierte,
wie würden unsere Politiker, Medien und die Öffentlichkeit reagieren, wenn in Deutschland Taxis mit dem Bundesadler oder der Nationalfahne gekennzeichnet würden, damit die Kunden sicher sein können, von einem christlichen Deutschen gefahren zu werden? Oder wenn Firmen auf ihren LKWs und im Telefonbuch damit werben würden, dass sie nur christliche deutsche Arbeiter beschäftigen? - Natürlich undenkbar, dass so etwas in Deutschland geschieht und gesetzlich zulässig wäre. Aber in Israel geschieht derartiges tatsächlich, wie aus dem beigefügten Bericht (Anlage 1 weiter unten) von Gershon Baskin, der von der Jerusalem Post veröffentlicht wurde, hervorgeht. Darin schreibt Baskin "Nun bringt meine Regierung, die von Politikern und Parteien geführt wird, direkt vor meinen Augen Gesetze heraus, die uns in die Nähe der Nürnberger Gesetze bringen." ... "Israel delegitimiert sich durch seine eigenen Aktionen."
Aus einem SPIEGEL-Artikel geht hervor, dass die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG), die die israelische Politik und damit auch die völkerrechtswidrige Besiedlung der Palästinensergebiete bedingungslos unterstützt und enge Verbindungen zur israelischen Botschaft unterhält, von der Bundesregierung finanziell unterstützt wird. Gruppierungen, die sich hingegen für eine Friedenslösung auf der Basis des Völkerrechts, der Menschenrechte und der UN-Resolutionen einsetzen, werden ignoriert und natürlich in keiner Weise unterstützt.
Meinem Rundbrief hatte ich Vera Machts Bericht aus dem Gazastreifen "Ich habe nur noch Euch" (Anlage 2) beigefügt. Die Freiwilligen des International Solidary Movements (ISM) versuchen jetzt, eine finanzielle Unterstützung zu bekommen, damit für die Überlebenden der Familie Nasser in einiger Entfernung von dem Todesstreifen, der sogenannten Pufferzone, ein neues Haus gebaut werden kann. Es wäre schön, wenn Sie dies unterstützen würden. Einzahlungen werden auf Vera Machts Konto Nr. 2007474881 bei Barclays Bank PLC, BLZ 20130600 unter dem Verwendungszweck 490638296166705, Spende ISM Gaza, erbeten. Auch kleine Beträge sind eine große Hilfe. - Den Bericht füge ich als Anlage bei.
Der amerikanische Luftwaffen-Kommandeur Le May, unter dessen Kommando im letzten Weltkrieg mit voller Absicht in Tokio 100 000 Zivilisten in ihren Häusern verbrannt und die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, sagte danach: "Wenn wir den Krieg verlieren, werden wir alle als Kriegsverbrecher verurteilt." - Genauso ist es. Nur die Verlierer werden zur Rechenschaft gezogen, aber niemals die Sieger. So droht man jetzt nur Gaddafi vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, weil er die Zivilbevölkerung mit Flugzeugen angreifen lässt. Aber wenn Natotruppen in Afghanistan und die Israelis im Gazastreifen derartiges tun, dann hat das keinerlei Konsequenzen. Da wird mit zweierlei Maß gemessen, wie die Juristin und Ex-Diplomatin Luz Maria De Stéfano Zuloago de Lenkait in dem beigefügten Leserbrief beklagt. (Siehe Anlage 3)
Der Krieg in Afghanistan zeigt viele Parallelen zum Vietnamkrieg. Die USA eröffneten den Krieg gegen Nordvietnam, nachdem sie behauptet hatten, dass ihre Kriegsschiffe im Golf von Tonkin mit Torpedos angegriffen worden seien. Dass dies aber nicht stimmte, geht zum Beispiel aus der im Fernsehen gezeigten beeindruckenden Dokumentation "The Fog of War" mit den Aussagen des früheren amerikanischen Verteidigungsministers McNamara hervor. 3,4 Millionen Vietnamesen wurden in diesem sinnlosen Krieg gegen den Freiheitswillen der Vietnamesen getötet, was im Verhältnis zur Bevölkerungszahl 27 Millionen Amerikanern entsprochen hätte - ganz zu schweigen von den Verstümmelten, Verletzten und Traumatisierten, die in einem verwüsteten Land zurückblieben. Aber kein Amerikaner wurde dafür zur Verantwortung gezogen. Auch die UN-Berichte, die die israelischen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße dokumentieren, bleiben unbeachtet.
Zur Lage im Nahen Osten und in Nordafrika schreibt Bernhard Zand im SPIEGEL 10/2011: "Vor allem haben Washington, London, Paris und Berlin eine politische Option, ja Verpflichtung, die so offensichtlich ist, dass sie anscheinend kaum einer wahrnimmt. Nie war die Stunde günstiger, in Palästina Frieden zu schließen: Israel, von der Revolution in Ägypten überrascht und zu Recht um seine Sicherheit besorgt, hat keine andere Chance als die Anerkennung der Zwei-Staaten-Lösung, wenn es zugleich ein jüdischer und demokratischer Staat bleiben will. ... Für den Westen ist dieser Schritt die eine Rechnung, die er aus seiner imperialistischen Vergangenheit mit der arabischen Welt noch offen hat - Die Schaffung eines arabischen Staates auf dem Gebiet des einst osmanischen Palästinas, in den Grenzen von 1967, die in der Uno-Resolution 242 von aller Welt anerkannt sind."
Das israelische Vorgehen gegen die Palästinenser erreicht leider nicht die gleiche Aufmerksamkeit, wie die Ereignisse in Libyen. Lesen Sie doch mal die authentischen Berichte der mutigen Vera Macht von den Einzelschicksalen aus dem Gazastreifen, die sich dort fast alltäglich wiederholen (siehe Anlagen). Und folgen Sie Stéphane Hessels Aufruf in seinem Manifest "Empört Euch": "Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen. ... "Ohne mich" ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den "Ohne mich"-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: Die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement."
Manchmal gibt es aber auch erfreuliche Nachrichten. Der frühere israelische Botschafter in Südafrika, Ilan Baruch, hat sich von seiner Regierung distanziert und ist von seinem Posten im diplomatischen Dienst zurückgetreten. Unter anderem erklärte er: "Die Ablehnung der Besatzungspolitik durch die öffentliche Meinung weltweit als Antisemitismus zu bezeichnen, ist vereinfachend, provinziell und unnatürlich. Die Erfahrung zeigt, dass dieser weltweite Trend sich erst ändern wird, wenn wir unsere Beziehungen mit den Palästinensern normalisieren."
Abschließend möchte ich noch auf den jetzt fertiggestellten Bericht „Operation gegossenes Blei – Israel/Gaza“ von amnesty international, Evelyn Hecht-Galinskis wie immer lesenswerten Kommentar „Die einzige Demokratie im Nahen Osten“ hinweisen.
Anlage 1:
Dem Frieden begegnen: Spiegelein, Spiegelein an der Wand
von Gershon Baskin, 21.2.2011, IPCRI-News / Jerusalem Post
So sehr wir auch an diejenigen appellieren die verheimlichen, so können wir doch die Realität nicht verändern oder die Tatsache verbergen, dass unsere Knesset eine Bastion für Fremdenfeindlichkeit geworden ist.
Während ich neulich in einem Jerusalemer Taxi fuhr, bemerkte ich, dass der Name der Taxi-Gesellschaft mit Davidsternen dekoriert war. Ich fragte den Fahrer weshalb. Er antwortete: unsere Gesellschaft stellt nur jüdische Fahrer ein, dann wissen unsere Kunden, dass sie sich sicher fühlen können.
Ich erinnere mich, dass ich in Jerusalem LKWs mit großen Plaketten fahren sah, auf denen stand „Nur jüdische Arbeiter“. Und es gibt Inserate auf den gelben Seiten ( des Telefonbuchs) von Firmen, dass sie nur jüdische Arbeiter anstellen. Ich frage mich, ob dies politisch unkorrekt sei, so offen zu sein. Ich sah in Baka eine Pizza Bäckerei, die nach einem Lieferjungen suchte - „ nach dem Armee-Dienst“ Es machte mich nachdenklich. Braucht ein Lieferjunge im Südwesten Jerusalems Kampferfahrung? Es muss ein harter Job sein.
Nun gibt es SOS-Israel, das 2003 gegründet wurde, das sogar eine Facebookseite hat, die organisiert wurde, um zu opponieren; das schließt ein : Gebt die besetzten Gebiete frei!
Heute hat diese Art von Organisation eine Agenda adoptiert, um jüdische Mädchen, die Beziehungen zu arabischen jungen Männern geknüpft haben, zu retten. Dieser neue Ausdruck jüdischer Aufklärung gibt auch Kosher-Zertifikate an Firmen, die keine arabischen Arbeiter anstellen. Könnte man sich in Frankreich eine Organisation vorstellen, die Zertifikate an Firmen herausgeben, die keine Leute mit nahöstlichem Hintergrund anstellen. Ich erinnere mich, dass ich als 9 jähriger Junge mehrere Monate vor dem Bürgerrechtsgesetz ( in den USA) an einem Restaurant vorbeiging, wo ich las „Nur für Weiße“.
Nun bringt meine Regierung, die von Politikern und Parteien geführt wird, direkt vor meinen Augen Gesetze heraus, die uns in die Nähe der Nürnberger Gesetze bringen wie das Anti-Hetz-Gesetz, das Zutritt-Komitee-Gesetz, das Gesetz, um Israels Werte zu schützen, um nur ein paar zu nennen.
Zum Amusement ( oder zum Ärger) des Lesers hier ein Beispiel, wie ein zukünftiges vorgeschlagenes Gesetz aussehen könnte, in welcher Weise die Dinge weitergehen: Das Verständnis über die Reinheit des jüdischen Blutes ist wesentlich für die weitere Existenz des jüdischen Volkes. Sie wird inspiriert von kompromissloser Entschlossenheit, die Zukunft der Nation zu sichern. Die Knesset hat folgendes beschlossen: das Heiraten zwischen Arabern und Juden ist verboten. Geschlossene Heiraten trotz dieses Verbotes sind ungültig, auch wenn sie im Ausland geschlossen wurden. Außerehelicher Verkehr zwischen Araber und Juden ist verboten. Arabern ist es nicht erlaubt, jüdische Hausangestellte unter 45 einzustellen.
Einige Knessetmitglieder würden besorgt solch einen Vorschlag unterstützen. Sie würden sogar alle Arten von Änderungen hinzufügen in Bezug auf Juden, die in irgend einer Weise arabische Interessen vertreten.
Sie würden gewiss dafür sorgen, dass ich nicht mehr für die Jerusalem Pot schreibe. Ich bin schon ein stolzes Mitglied auf der Liste - als S.H.I.T Liste bekannt - der Rechtsextremen als selbsthassender Jude und Israelverräter.
Als 1984 Meir Kahane in die Knesset gewählt wurde, brachte ich dem Bildungskomitee eine Kopie der Nürnberger Gesetze und legte es auf Kahanes politisches Programm. Das kam auf die Titelseiten, und die meisten Israelis waren von Kahanes extremen Rassismus geschockt. Heute regt sich keiner darüber besonders auf, dass unsere Knesset eine Bastion für Fremdenfeindlichkeit geworden ist.
Das Anwachsen von Rassismus ist eine direkte Folge unserer Weigerung, mit unsern palästinensischen Nachbarn Frieden zu machen. Ja es ist unsere Weigerung. Es gibt einen Partner für Frieden und jeder, der das anzweifelt, will die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen. Unsere Publizisten und Politiker können das Narrativ noch einmal schreiben, wie es ihnen gefällt, aber es wird die Tatsache nicht ändern, wenn es Israel mit dem Frieden auf der schon verhandelten Grundlage ernst wäre, dann würde es möglich sein, diesen Konflikt zu beenden. Wir mögen uns sicher fühlen, weil die USA in der UN ihr Vetorecht benützt hat, aber wir sollten nicht mit der Illusion leben, dass die US-Unterstützung eine Art Sicherheit ist. Israel delegitimiert sich durch seine eigenen Aktionen. Die legislative Agenda von Avigdor Lieberman, Shas und einem bedeutenden Teil des Likud zusammen mit der Fortsetzung der Besatzung, dem Siedlungsbau, der Zerstörung von palästinensischen Häusern in Ost-Jerusalem, der Aufhebung des Jerusalemer Wohnrechts von Hunderten pro Jahr von Palästinensern, die in der Stadt geboren wurden, der Übernahme von palästinensischem Besitz, der vor 1948 (angeblich) Juden gehörte, während den Arabern dasselbe Recht verweigert wird, und die Welt nicht weiter berührt. Unsere Politik geht mit der Demokratie nicht Hand in Hand . Sie Scharade ist vorüber. Statt ein Licht unter den Völkern zu sein, führen uns die Politiker in die dunkelste Ära, die wir je als Staat gekannt haben.
Ich schreibe dies mit Wut im Bauch und unter großen Schmerzen. Ich bin voller Zorn über das öffentliche Schweigen angesichts unserer Gemeinheiten. Ich bin wütend, dass Stimmen von Leuten wie Bennie Begin und Dan Meridor nicht gehört werden.
Diejenigen die rassistische und fremdenfeindliche Legislatur im Namen der Rettung von Juden und des Judentums vorschlagen, handeln in meinem Namen. Mein Judentum schließt aber keinen Hass gegen Nichtjuden ein. Mein Israel ist eines, das Frieden mit seinen Nachbarn sucht und unsere Zukunft mit unserer Fähigkeit verbindet, wirkliche Abkommen zu erreichen, die Leben erhalten, Wohlstand aufbauen und sich um das Wohlbefinden der Leute kümmern, die weniger glücklich sind als wir.
Ich möchte glauben, dass die Realität, die wir heute sehen, für eine Gesellschaft in den letzten Tagen eines Konflikts symptomatisch ist. Ich möchte glauben, dass Israel schon erkannt hat , dass es einen palästinensischen Staat geben wird und dass die Besatzung enden muss. Es gibt Antisemiten, die daran arbeiten, Israel zu delegitimieren, aber sie können ihre Aktivitäten einstellen, weil unsere Regierung dies viel besser macht. Der Spiegel zeigt uns die Realität, egal wie viel Make-up wir benützen.
Der Autor ist ein Mitarbeiter des Israelisch/Palästinensischen Zentrums für Forschung und Information (www.ipcri.org) und ist im Begriff, das Zentrum für israelischen Fortschritt zu gründen (http://israeli-progress.org)
(dt. Ellen Rohlfs)
Anlage 2:
von Vera Macht
„Ich habe nur noch euch, an die ich mich wenden kann. Von jetzt an hängen meine Kinder von euch ab“, ist die verzweifelte Forderung eines Mannes, der keinen Ausweg mehr sieht für sich und seine Kinder, und die wir ISM-Mitglieder, die nach seinem Anruf gekommen sind, hilflos schweigend entgegennehmen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir diese Familie besuchen, und jedes Mal fahren wir bestürzter nach Hause.
Es war am 14. Juli 2010, als wir das letzte Mal da waren, am Tag nachdem seine Frau starb. Ermordet wurde, anders kann man es nicht nennen. Nasser Jabr Abu Said lebt in Johr al-Dik, 350 Meter entfernt von der Grenze zu Israel. Am Abend des 13. Juli war Nassers Ehefrau mit zwei weiteren Frauen aus der Familie und den Kindern im Garten, als die Familie von einem nahen Panzer mit Artilleriegranaten beschossen wurde. Mit Flachettebomben, die in der Luft explodieren, sodass 5 bis 8000 Nägel aus ihnen herausschießen, die in einem Radius von 300 mal 100 Metern alles durchspießen. Eine illegale Waffe.
Nassers Ehefrau blieb unverletzt, doch die Schulter der Schwester Nassers wurde durchbohrt, sowie das Bein der dritten Frau, Sanaa Ahmed Abu Said, 26. Die Familie suchte Schutz im Haus, der heran gerufene Krankenwagen wurde von Maschinengewehrschüssen der nahen israelischen Soldaten vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt wurde der 33jährigen Ehefrau Nassers, Nema Abu Said bewusst, dass das jüngste ihrer Kinder, Nader, noch im Garten schlief. Als Nema nach draußen lief, um diesen in Sicherheit zu bringen, wurden sie und ihr Schwager von den Nägeln einer weiteren Flachettebombe durchbohrt. Es dauerte vier endlos lange Stunden bis der Krankenwagen die Erlaubnis erhielt der Familie zu helfen, bis dahin war Nema gestorben.
Als wir damals die Familie besuchten, hatte es noch niemand übers Herz gebracht, Nader zu erklären, dass seine Mutter gestorben war. Er fragte ständig nach ihr, während wir dort waren. Doch wie erklärt man so etwas einem dreijährigen Kind?
Doch als wir jetzt kamen, da wussten alle Kinder nur zu gut, was passiert war. Nasser erklärte uns, dass er nicht länger in dem Haus wohnen konnte, weil die fast täglichen Panzereinbrüche, Bomben und Schüsse die angegriffene Psyche der Kinder so belastet hatten, dass sie jede Nacht schreiend aus Alpträumen aufwachten, das Bett genässt. UNRWA mietete ihnen eine winzige Wohnung – direkt neben dem Friedhof auf dem die Mutter begraben liegt. „Meine Kinder waren nicht mehr vom Grab ihrer Mutter weg zu bekommen. Als es immer häufiger passierte, das ich auf einmal nachts bemerkte, wie eins der Kinder weg war, und ich es dann weinend auf dem Friedhof fand, wusste ich, dass ich dort nicht länger bleiben konnte“, erzählt uns Nasser.
Seine Alternative ist bestürzend. Er hat ein Zelt aufgeschlagen, vom Roten Kreuz finanziert, wenige hundert Meter von seinem alten Haus entfernt. Sie brachten ihm auch drei Decken, auf weitere Nachfrage bekam Nasser die Antwort, sie hätten doch jetzt schon geholfen. UNRWA gab die Auskunft, dass sie ihm kein neues Haus finanzieren könnten. Sie würden zwar anerkennen, dass die Gefahr zu groß sei, um im alten Haus zu bleiben, aber dieses müsste erst zerstört worden sein. Vorher handeln sie nicht.
In diesem Zelt, inmitten der Regenschauer des Winters, schläft Nasser nun mit seinen vier Söhnen und seiner Tochter, 3, 5, 8, 9 und 10 Jahre alt. Auf zwei Matratzen, alle paar Wochen müsste er die alten Matratzen verbrennen, jede Nacht nässen die Kinder sie ein. Doch für ausreichend neue fehlt das Geld, genauso wie für ausreichend Decken, Kleidung und Schuluniformen für die Kinder, und das Geld für ihren Transport zur Schule. Er traut sich auch nicht, diese zur Schule zu schicken bevor es hell ist, was bedeutet, dass sie jeden Tag zwei Schulstunden verpassen. „Sie brauchen dringend psychologische Betreuung“, sagt Nasser leise, er weiß gar nicht wo er anfangen soll, als wir ihn fragen, was er am dringendsten bräuchte. Sie hatten psychologische Betreuung, eine kurze Weile, der Psychologe diagnostizierte, das sie geistig auf dem Stand geblieben sind, auf dem sie waren, als ihre Mutter starb.
Als vor ein paar Tagen die Bomben fielen, eine davon in Nähe des Hauses, weckten die Kinder den Vater schreiend.
Sie brauchen die ununterbrochene Betreuung ihres Vaters, doch das ist nicht das einzige, was diesen darin hindert, Geld verdienen zu können. Nasser kann sein Land nicht mehr bewirtschaften, es wurde zu oft platt gewalzt, es liegt größtenteils in der unerreichbaren Pufferzone, und ihm fehlen die Mittel, um auf dem Restland überhaupt mit Landwirtschaft beginnen zu können. Er hat das Geld nicht für Samen, um etwas an zu pflanzen. „Ich würde gerne wieder Auberginen, Kohl und Wassermelonen anbauen. Auch Schafe wären eine große Hilfe. Aber mein Wassersystem ist durch die Bomben komplett zerstört, mir fehlt das Geld, es wieder aufzubauen.“
„Ich bin ein alter Mann“, sagt Nasser Abu Said, 37 Jahre alt, „auf mich kommt es nicht mehr an. Aber was ist mit meinen Kindern? Haben die kein Recht auf Leben, kein Recht darauf in Sicherheit und etwas Freude aufzuwachsen?“
„Von jetzt an hängen meine Kinder von euch ab“, dieser Satz geht einem nicht so schnell wieder aus dem Kopf. Und so tue ich das, was in meiner Macht steht. Ich schreibe darüber. Denn das Unglück Nassers, das geht uns alle an. Das war kein Schicksal, das war keine Naturkatastrophe. Vor ein paar Jahren waren Nema und Nasser Abu Said eine glückliche und zufriedene Familie.
Vera Macht lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza. Sie ist Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)
Anlage 3:
von Luz Maria De Stäfano Zuloaga de Lenkait, Juristin und Diplomatin a.D., 40670 Meerbusch
Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung (SZ) zum Artikel vom 4.3.11, Titelseite: Gaddafi soll vor Welt-Strafgerichtshof
Nach dem Gleichheitsprinzip vor dem internationalen Gesetz handeln
Schon die Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 4.3.11 Gaddafi soll vor Welt-Strafgerichtshof ist eine Anmaßung. Niemand soll vor Gericht ohne Anklage. Die SZ übernimmt die Rolle der Gerichtsbarkeit. Will die Süddeutsche Zeitung eine Lynch-Justiz von sich aus fordern oder ist sie dazu von gewissen interessierten Kreisen angestiftet worden.
Eine neue Ära, wie zu optimistisch und gleichzeitig oberflächlich die SZ die internationale Rechtslage bewertet, ist noch nicht in Sicht. Niemand darf Zivilisten angreifen. Diese eindeutige humane Maxime ist eine alte Selbstverstädlichkeit. Seit den Nürnberger Prozessen wurde diese humane Maxime bekräftigt und das inhumane Verhalten nach dem gesunden Menschenverstand geahndet.
Außenminister Guido Westerwelle würdigte die Nünberger Prozesse als Antwort auf die Perversion des Rechts im nationalsozialistischen Deutschland. Der russische Außenminister Sergej Lawrow nennt die Nürnberger Prozesse die bedeutendsten Prozesse in der Geschichte der Zivilisation. Die Nürnberger Prinzipien sind von allen Journalisten, Politikern und Richtern zu beachten: Der Grundsatz VI verdammt den Angriffskrieg. Im Jahr 2002 haben sechzig Staaten das Statut des Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert, jenes Statut, das auf den Nürnberger Prinzipien beruht. Die USA haben es aber nicht ratifiziert.
Der Journalist Nicolas Richter trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er in seinem SZ-Kommentar Selten hinter Gittern vom 5.3. schreibt: Die USA haben im Sicherheitsrat eine lange verhasste Institution anerkannt. Selbst aber treten die Amerikaner dem Tribunal nicht bei, aus Furcht vor Ermittlungen wegen eigener Verbrechen etwa im Irak.... Washington sollte sich dem Strafgericht endlich selbst unterwerfen. Diese Doppelmoral der USA ist unhaltbar. Eine dauerhafte, weltweite anerkannte Strafjustiz muss sich mit den Angriffskriegen und der Gewalt westlicher Staaten befassen. Bezeichnenderweise hat das Haager Weltstrafgericht noch keinen westlichen Verbrecher verurteilt. Diese Kriminellen laufen frei herum - auf freiem Fuß in den USA und in Europa.
Eine neue Ära, und zwar eine institutionelle Ära, in der die rechtmäßigen Weltinstitutionen und Grundlagen tatsächlich funktionieren und gelten, würde nur eintreten, wenn das Prinzip der Gleichheit vor dem internationalen Gesetz seine volle allgemeine universelle Gültigkeit wiedergewinnt und angewendet wird. Das ist bisher nicht der Fall. Nach dem Gleichheitsprinzip sollte der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag tagen und handeln. Infolgedessen wären alle Morde und Massaker gegen Zivilisten zu untersuchen, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die meisten Verbrechen, die straflos geblieben sind, kommen aus den NATO-Staaten. Solche NATO-Verbrechen sind weltweit bekannt und zu präzisieren: Massaker und Mord von unzähligen Zivilisten bei den NATO- Bombenangriffen gegen Jugoslawien 1999 mit gezielten Angriffen auf Brücken voller Fußgänger, auf Krankenhäuser, weitere Straftatbestnde: Die unzähligen Kinderopfer beim barbarischen Bombenangriff gegen Bagdad 2003, Massaker am Kundus (4.9.2009) und wiederholt ein neues Massaker in Kunar (Afghanistan, Meldung 1.3.11), wo fünfundsechzig Zivilisten, die meisten von denen Kinder unter 13 Jahren, während einer NATO-Offensive getötet wurden. Nicht nur eine Regierungskommission, sondern auch die unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans und die UNO haben ebenfalls Untersuchungen zu den tödlichen Vorfällen in Kunar eingeleitet, die zum blamablen Ergebnis für die NATO führen: Ihre Erkenntnisse bestätigen die erhobenen Anschuldigungen gegen die NATO. Die zahlreichen Zivilisten, die im Verlauf der NATO-Kampfeinsätze in Afghanistan getötet wurden, sind schon seit Jahren ein Streitpunkt zwischen den Besatzungstruppen und dem afghanischen Präsident Karsai. In diesem Zusammenhang hat sich sogar der Oberkommandeur der NATO-Streitkräfte in Afghanistan, General David Howell Petraeus für die jüngste Tötung von Zivilisten entschuldigt.
Deutschland und Europa wollen immer noch nicht begreifen, dass mit dem US-Präsident Barack Obama eine Kehrtwende in der Weltpolitik eingetreten ist, auch wenn sich die vorhergehenden
kriminellen Kreise der Cheney-Bush-Regierung gegen diese Kehrtwende stellen. Während
die Obama- Administration den barbarischen Irakkrieg verurteilt, akklamieren gewisse deutsche europäische Kreise solcher Barbarei als Präzedenzfall für Ähnliche mörderische Angriffe, die gegen alle UN-Grundlagen verstoßen.
Keine Anklage ist möglich, ohne strafrechtliche Untersuchung. Jede strafrechtliche Untersuchung muss ausführlich sein. Im Fall der angegriffenen friedlichen Demonstranten in Libyen beträfen die Ermittlungen auch die Opposition, die ebenso wie das Umfeld von Gaddafi bewaffnet ist. Würden Vertreter der Opposition Verbrechen begehen, gebe es auch für sie keine Straffreiheit. So verlautete es korrekt aus dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (Meldung von 4.3.). Besonders die Tätigkeiten der ausländischen Konzerne in Libyen müssen untersucht werden, weil in diesem Umfeld ein klares Motiv besteht, Libyen zu destabilisieren und einen Bürgerkrieg angezettelt zu haben. Diese Plausibilität ist unbestreitbar.
Sollten nur die angeblichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Libyen untersucht werden und die NATO-Verbrechen ohne gerichtliche Aufmerksamkeit, also straflos, bleiben, verliert der Internationale Strafgerichtshof von Den Haag seine legale Glaubwürdigkeit genauso wie der UN-Sicherheitsrat, der die Untersuchung blauäugig gegen ein bestimmtes Land anordnet und nicht gegen Verbrecher der NATO-Staaten. Auch Israel ist seit langem ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof auf Grundlage des lange fertiggestellten UN-Untersuchungsberichtes, den bekannten Goldstone-Report, und aufgrund des Berichts des UN-Menschenrechtsrat in Genf - ein weiterer gravierender Punkt, um die weltweiten Machtverhältnisse in Frage zu stellen, die innerhalb der Weltstaatengemeinschaft immer noch einseitig zugunsten der NATO-Staaten ausfallen.