Palästina-Israel - Info & Gedanken Nr. 30

von Siegfried Ullmann

Liebe Friedensbewegte, Israelfreunde und Nahost-Interessierte,

Der Nahe Osten ist im Umbruch. Welche Auswirkungen das für Israel haben dürfte, ist dem beigefügten Kommentar (am Ende des Artikels), des israelischen Journalisten Uri Avnery vom 5. 2. 2011 "Eine Villa im Dschungel" zu entnehmen. Die israelische Journalistin Amira Hass befürchtet allerdings, dass bei einer friedlichen Massendemonstration der Palästinenser gegen die israelische Besatzung die Armee einen Schießbefehl erhalten und auch ausführen würde. "Selbst wenn es ein Marsch von 200 000 unbewaffneten Zivilisten ist, wird es ein Blutbad geben."


Es ist erstaunlich und sicherlich erfreulich, welch große Anzahl jüdischer Persönlichkeiten auf der schwarzen Liste der Israel-Lobby als "jüdische Selbsthasser und Israel-Feinde" aufgeführt sind. Darunter finden sich der Israeli Jeff Halper sowie die Jüdinnen Felicia Langer, Iris Hefets und Evelyn Hecht-Galinski. Näheres können Sie unter www.masada2000.org/shit-list.html ersehen. Auf dieser Liste zu stehen, ist m. E. ein Beweis für die Integrität und Menschlichkeit  der Genannten und damit eine Ehre. Die Schmähungen (in englischer Sprache) zeigen hingegen die primitive und menschenverachtende Denkweise der Verfasser.

Ganz besonders empfehlen möchte ich Ihnen zwei Bücher, die zu den Besten über die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten gehören:

1.) Das neu  herausgekommene Buch "Border Line. Palästina-Israel. Wer zieht die Grenzen?" von Klaus Peter Kaletsch, der 16 Jahre als Entwicklungshilfe-Berater in Palästina und Israel lebte und arbeitete. Seine Berichte sind ehrlich und authentisch.

2.) "Checkpoint Watch - Zeugnisse israelischer Frauen aus dem besetzten Palästina" von Yehudit Kirstein Keshet. Es ist nicht zu fassen, mit welch grausamer Systematik die Menschen in den besetzten Gebieten ihrer elementaren Rechte und ihrer Würde beraubt werden. Davon ist natürlich nicht die Rede, wenn unsere Bundeskanzlerin mit ihren Ministern in Israel auftritt. Ohne die mutigen israelischen Frauen, die an den Kontrollpunkten versuchen, wenigstens die schlimmsten Übergriffe zu verhindern, würde die Welt nur wenig darüber erfahren, wie den Palästinensern jegliche Bewegungsfreiheit innerhalb der besetzten Gebiete genommen wird.

Die israelische Regierung verlangt von der Palästinenserführung als Vorbedingung für Friedensverhandlungen die Anerkennung Israels als jüdischen Staat. Damit will sie jegliche Friedensgespräche blockieren, denn diese Forderung ist für die Palästinenser im Hinblick auf die rd. 1,5 Millionen arabischen Israelis nicht akzeptabel. Außerdem will Israel auf diese Weise Forderungen nach Einbeziehung der besetzten Gebiete und seiner palästinensischen Bewohner in einen gemeinsamen demokratischen Staat mit gleichen Rechten für alle seine Bürger abwehren. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wie das funktionieren könnte, wenn die Siedler dann im Westjordanland auf dem den Palästinensern geraubten Land verbleiben und die jüdische Mehrheit weiterhin die Ressourcen kontrolliert.

Der Spiegel berichtet in seiner Ausgabe 4/2001 über die Hintergründe der Lieferung deutscher U-Boote an Israel. Da muss man sich doch fragen, wofür Israel derartige, mit Atomwaffen bestückbare U-Boote benötigt. Zudem verstoßen derartige Waffenlieferungen  gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Israel sowie gegen das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz, welches Waffenlieferung in Krisengebiete verbietet und in dem es heißt: "Der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland wird bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beigemessen." Die Menschenrechte werden von Israel aber in vielerlei Hinsicht, insbesondere durch den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau, die Hauszerstörungen, Inhaftierungen ohne Anklagen etc. in den besetzten Gebieten einschließlich Ostjerusalem sowie durch die Blockade des Gazastreifens massiv missachtet. Deshalb ist die Lieferung dieser Kriegswaffen, die zur Destabilisierung der Region beitragen, auf jeden Fall rechtswidrig.

Empfehlen möchte ich Ihnen auch noch den Essay „Der Krieg der vier Lügen“  -“Plädoyer für ein Ende des deutschen Engagements in Afghanistan“ von Jürgen Todenhöfer im aktuellen Spiegel Nr. 6/2011.

Besondere Unterstützung verdient die Initiative "Hoffnungsvögel", die sich im Gazastreifen um traumatisierte Kinder kümmert. Manche Kinder sind durch die Bombardierungen, Panzer- und Raketenangriffe und den Verlust ihrer Eltern und/oder Geschwister so traumatisiert, dass sie nicht mehr sprechen. Am 20. Februar 2011 wird im Margarete Grundmann-Haus, Lotharstraße 84-86 in Bonn, eine Informations- und Benefizveranstaltung stattfinden.

Unser Außenminister hat von der ägyptischen Regierung verlangt, dem Volk das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht zu beschränken. Aber warum fordert er nicht in gleicher Weise von der israelischen Regierung, die friedlichen Proteste der Palästinenser gegen die Enteignung ihres Landes, insbesondere in den Dörfern Bilin und Nilin, nicht durch militärische Gewalt, die immer wieder zu Toten und Verletzten führt, zu unterdrücken?

 


Anhang:

"Eine Villa im Dschungel"

Uri Avnery, 5. Februar 2011

WIR SIND inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava.

Die Menschen fürchten sich vor der Veränderung. Wenn dies geschieht, neigen sie dazu, dies zu leugnen, zu ignorieren, geben vor, dass nichts wirklich Bedeutendes geschieht.

Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während im benachbarten Ägypten erderschütternde Dinge geschehen, war Israel mit einem Skandal in den oberen Rängen der Armee beschäftigt. Der Verteidigungsminister verabscheut den amtierenden Stabschef und macht daraus kein Geheimnis. Der mutmaßlich neue Chef wurde als Lügner enthüllt, und seine Ernennung wurde zurückgezogen. Das waren die Schlagzeilen.

Aber was jetzt in Ägypten geschieht,  wird unser Leben verändern.

WIE GEWÖHNLICH sah es keiner voraus. Der viel gefeierte Mossad war total überrascht, genau wie der CIA und all die anderen gefeierten  Dienste dieser Art.

Doch sollte es überhaupt keine Überraschung gewesen sein – abgesehen von der unglaublichen  Wucht des Ausbruchs. In den letzten Jahren haben wir viele Male  hier erwähnt, dass in der ganzen arabischen Welt eine Menge junger Leute heranwächst, die eine tiefe Verachtung für ihre Führer hat, und  dass es früher oder später zu einem Aufstand kommen werde. Dies waren keine Prophezeiungen, sondern eher eine nüchterne Analyse von Wahrscheinlichkeiten.

Der Aufstand in Ägypten wurde durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt: die wachsenden Lebenskosten, die  Armut, die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten jungen Leute. Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: die zu Grunde liegenden Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem Wort zusammengefasst werden: Palästina.

In der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Not ertragen, aber keine Demütigungen.

Was jeder junge Araber von Marokko bis Oman  täglich sah, war , dass seine Führer sich  demütigten, indem sie die palästinensischen Brüder  im Stich ließen, um Gunst und Geld von Amerika zu erhalten. Sie kollaborierten mit der israelischen Besatzung und katzbuckelten vor  den neuen Kolonialherren. Dies war für junge Leute zu tiefst demütigend, die  mit den Errungenschaften der arabischen Kultur vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer Kalifen  aufgewachsen sind.

Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das offen mit der israelischen Führung kollaboriert, in dem es die schändliche Blockade über den Gazastreifen verhängt und so 1,5 Millionen Araber der Unterernährung und Schlimmerem preisgibt. Es war niemals nur eine israelische Blockade, sondern eine israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschmiert wurde.

Ich habe viele Male – laut – darüber nachgedacht, wie ich mich als 15-jähriger Junge in Alexandria, Amman oder Aleppo fühlen würde, wenn ich meine Führer sehe, wie sie sich  wie unterwürfige Sklaven der Amerikaner und Israelis benehmen, während sie ihre eigenen Untertanen unterdrücken und ausplündern. In diesem Alter schloss ich mich einer terroristischen Organisation an. Warum sollte ein arabischer Junge anders sein?

Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde reflektiert. Aber ein Diktator, der nationale Schande ausdrückt, ist ein Baum ohne Wurzeln –  ein starker Wind wird ihn zu Fall bringen.

Für mich gab es nur die Frage, wo es in der arabischen Welt anfangen würde. Ägypten – wie auch Tunesien – standen unten auf der Liste. Doch genau hier in Ägypten findet  die große arabische Revolution statt.

DIES IST ein Wunder für sich selbst. Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, so ist dies ein großes.

Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen wirklich lieben kann, aber man kann sicher ein Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser Hinsicht ist es einem erlaubt, zu verallgemeinern.

Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der intellektuellen  Elite und in den Gassen  der Ärmsten  der Armen sind eine unglaublich geduldige Gesellschaft   Sie sind mit einem  unverwüstlichen Gespür für Humor ausgestattet. Sie sind auch unheimlich stolz auf ihr Land und seine 8000 jährige Geschichte.

Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist, ist das fast vollkommene Fehlen von Aggressivität bei  den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine besondere Szene: ich saß in einem Taxi in Kairo, als dieses mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken. Und dann hielten beide plötzlich inne und brachen in ein Gelächter aus.

Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt, mag er dieses oder hasst es. In dem Augenblick, in dem du auf ägyptischem Boden landest, verliert die Zeit ihren tyrannischen Druck. Alles wird gelassen, alles ist durcheinander, doch in wunderbarer Weise löst sich alles von alleine auf.  Geduld ist grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die Geduld plötzlich ein Ende haben kann.

Es ist wie ein defekter Deich an einem Fluss. Das Wasser  steigt kaum wahrnehmbar und geräuschlos hinter dem Deich – aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht der Deich und überschwemmt alles.

MEINE EIGENE erste Begegnung  mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach Anwar Sadats  beispiellosem Besuch in Jerusalem eilte ich nach Kairo. Ich hatte kein Visum. Ich werde niemals den  Moment vergessen, in dem ich meinen israelischen Pass dem  korpulenten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer  verwirrter – und dann hob er seinen Kopf mit  einem breiten Lächeln und sagte  „Marhaba!“, „Herzlich Willkommen!“ Zu diesem  Zeitpunkt waren wir die einzigen drei Israelis in der riesigen Stadt, und wir wurden wie Könige gefeiert. Beinahe  erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern  der Leute gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen Ägyptens liebten dies.

Es  dauerte nur ein paar Monate, bis sich dies zu tiefst veränderte. Sadat hoffte -  und glaubte ehrlich– dass er auch den Palästinensern  Befreiung  gebracht hat. Unter intensivem Druck von Seiten Menachem Begins und Jimmy Carters stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald danach merkte er, dass Begin nicht im Traume daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen. Für Begin war das Friedensabkommen mit Ägypten ein separater Frieden, der es ihm möglich machte, den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren.

Die Ägypter  vergaben dies niemals – das begann bei der kulturellen Elite und  sickerte bis zu den Volksmassen durch. Sie fühlten sich betrogen. Die Palästinenser mögen nicht sehr geliebt sein, aber einen armen Verwandten zu verraten, ist nach arabischer Tradition eine Schande. Nachdem die Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit diesem Verrat kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag allem zugrunde, was in dieser Woche geschehen ist.  Die Millionen, die  „Mubarak, geh weg!“ schrieen,  schrieen - bewusst oder unbewusst   -  auch aus  dieser Verachtung.

BEI JEDER Revolution gibt es einen „Jeltzin-Moment“ . Die Panzer werden in die Hauptstadt geschickt, um die  Diktatur wieder herzustellen. Im kritischen Augenblick standen sich die Volksmassen und das Militär gegenüber.  Wenn die Soldaten sich zu schießen weigern, ist das Spiel zu Ende. Jeltzin kletterte auf einen Panzer, ElBaradei wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz. Das ist der Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland flieht, wie es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.

Dann gibt es noch den „Berliner Moment“, wenn ein Regime ins Wanken gerät und keiner der Mächtigen weiß, was er tun soll, und nur die anonymen Massen  genau zu wissen scheinen, was sie wollen: sie wollten, dass die Mauer fällt.

Und  es gibt noch den „Ceaucesco Moment“. Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die Menge, als plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment lang ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er. Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede hielt und umsonst versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.


WENN MUBARAK die Realität nicht mehr sieht, so trifft dies auch auf Binyamin Netanyahu zu.  Er und seine Kollegen sind unfähig, die schicksalhafte Bedeutung dieser Ereignisse für Israel zu begreifen.

Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Was in der nächsten Zukunft in Ägypten geschieht – Demokratie oder eine Militärdiktatur – so ist das nur die Sache einer (kurzen) Zeit, bevor die Diktatoren in der ganzen arabischen Welt fallen und die Massen eine neue Realität  ohne Generäle schaffen.

Alles, was die israelische Führung in den letzten 44 Jahren der Besatzung oder  der 63 Jahre seiner Existenz getan hat, ist  obsolet geworden. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie ignorieren – und darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“ sind, wie Ehud Barak es einmal bekanntermaßen sagte – oder einen passenden Platz in der neuen Realität finden.

Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger Luxus. Es ist eine absolute Notwendigkeit. Frieden jetzt, und zwar Frieden schnell. Frieden mit den Palästinensern und dann Frieden mit den demokratischen Massen in der ganzen arabischen Welt, Frieden mit den vernünftigen islamischen Kräften (wie Hamas und den Muslimbrüdern, die sich sehr von der Al-Qaida unterscheiden),  Frieden mit den Führern, die im Begriff sind, in Ägypten und überall aufzutauchen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)