Ukraine: Hätte der Einmarsch des russischen Militärs vermieden werden können?

 von Dieter Riebe und Uwe Werner Schierhorn

Na logisch!
Hätte die NATO Russland eine Garantie abgegeben, sich nicht weiter bis zur russischen Grenze auszudehnen (Ukraine, Weißrussland, Georgien), und keine modernen Waffensysteme (z.B. Raketen) an die Ostländer, insbesondere an die Ukraine zu liefern, dann wäre den Sicherheitsinteressen von Russland genüge getan. Hätte die Zentralregierung der Ukraine friedlich ihre innerpolitischen Probleme mit den Gebieten Donezk und Lugansk durch konstruktive Verhandlungen lösen wollen, anstatt gewaltsam militärisch gegen die russischstämmige Bevölkerung einzugreifen, um ihre Positionen einseitig zu erzwingen, dann wäre es nie zu einem Krieg gekommen.

Kurz umrissene Vorgeschichte:

Die Diskussion, ob es eine Zusage z.B. von Genscher (Außenminister) am 02.02.1990 [1] und der USA gegeben hat oder nicht, die NATO nicht auf die Länder des Ostens auszudehnen (Pufferzone), wäre eigentlich unerheblich, wenn man durchgehend freundlich (Win - Win Situation) miteinander umgegangen wäre. Ein Interview von Genscher z.B. bestätigt, dass es solche Aussagen gab. Doch Gorbatschow hätte sich diese Aussagen vertraglich absichern müssen. Warum er das nicht getan hat, lässt vermuten, dass er einer gewissen Naivität und auch Euphorie des Vertrauens erlegen war.

Fakt ist, dass die NATO sich immer weiter nach Osten ausgedehnt hat [2]. Die NATO steht mittlerweile direkt an der russischen Grenze (Baltische Staaten). Die Sicherheitsinteressen des russischen Staates wurden ignoriert.

NATO-Osterweiterung 1999: Polen, Tschechien und Ungarn
NATO-Osterweiterung 2004: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien
NATO-Osterweiterung 2009: Albanien und Kroatien
NATO-Osterweiterung 2017: Montenegro
NATO-Osterweiterung 2020: Nordmazedonien
Als Beitrittskandidaten: Bosnien und Herzegowina
Als Interessenten: Serbien und Kosovo

Zugesagte Einladung an: Georgien und Ukraine
In Diskussion: Schweden und Finnland

Die Rede von Putin im Bundestag (auf Deutsch) [3] im Jahre 2001 zeigt, dass Putin an einer Zusammenarbeit mit Deutschland sehr interessiert ist, und appellierte, endlich den vergangenen Kalten Krieg in den Köpfen der Politiker aufzugeben und konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Leider haben die verantwortlichen Akteure Deutschlands das Angebot einfach ignoriert.

Die ständigen Warnungen von Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 [4], siehe auch Video-Version Warnungen von Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 [5] ab Minute 18:10 die Sicherheitsinteressen Russlands nicht zu ignorieren, wurden von politischen Akteuren seitens der NATO nicht respektiert. Die NATO hat keinerlei positive, deeskalierende Initiative gezeigt.

In der Rede Putins vom 24.02.2022 [6] sind die Standpunkte Russlands verdeutlicht.

Die Gebiete Donezk und Lugansk haben deswegen gegen die Zentralregierung der Ukraine rebelliert, weil die politisch verantwortlichen, nationalistischen Akteure in Kiew die russisch-stämmige Bevölkerung „ukrainisieren“ wollte. Es wurde z.B. die Amtssprache Russisch über die Köpfe hinweg verboten.

Wirtschaftliche Kenngrößen

Die Ukraine ist einer der ärmsten Länder in Europa

USA - Bruttoinlandsprodukt             ca. 21.400 Mrd. US$ bei    330 Millionen Einwohner - pro Kopf ca. 64.800 US $

China - Bruttoinlandsprodukt           ca. 17.700 Mrd. US$ bei 1.400 Millionen Einwohner - pro Kopf  ca. 12.100 US$

Deutschland - Bruttoinlandsprodukt ca.   3.800 Mrd. US$ bei     83 Millionen Einwohner - pro Kopf   ca. 45.800 US$

Russland - Bruttoinlandsprodukt      ca.   1.700 Mrd. US$ bei   146 Millionen Einwohner - pro Kopf   ca. 11.600 US$

Ukraine - Bruttoinlandsprodukt         ca.      154 Mrd. US$ bei     42 Millionen Einwohner - pro Kopf    ca.  3.700 US$

 
Militärische Kenngrößen oder Wer bedroht Wen?

Weltweit wird seit Jahren immer weiter aufgerüstet und es wurde im Jahre 2020 ca. 2.000 Mrd. US $ in Rüstungsausgaben aufgewendet. Dies entspricht ca. das jährliche Bruttoinlandsprodukt von Italien. Pro Tag werden weltweit 5,4 Mrd. US$ für Militärausgaben ausgegeben. Die Nato gibt insgesamt mit über 1000 Mrd. Mrd. US$ 50% der weltweiten Militärausgaben aus.

Militärausgaben 2020

USA -              ca. 770 Mrd. US$ (38,5%)

China -            ca. 250 Mrd. US$ (12,5%)

Deutschland -   ca. 50 Mrd. US$ (2,5%)

Russland -        ca. 63 Mrd. US$ (3,2%)

Ukraine -             ca. 6 Mrd. US$

Demnach hat die Nato ein 16 x höheres Militär-Budget als Russland. Die Nato ist in der konventionellen Rüstung Russland um ein Vielfaches überlegen. Russlands Verteidigungsfähigkeit hängt alleine von seinen effektiven, hochtechnologischen Waffensystemen (z.B. Raketen) und Atomwaffen ab.


Eine grobe Übersicht über die wirtschaftliche Auswirkung der sogenannten „Sanktionen“

Die eindeutigen Profiteure der Sanktionen sind die USA und China und die Verlierer sind Deutschland, die EU und Russland. Neben der extremen Verteuerung der Energie (Gas und Oel) und Rohstoffe (z.B. Nickel), verteuern sich auch die Getreidepreise bzw. Nahrungsmittel. Leidtragende sind vor allem die Ärmsten der Armen die den Hungertod ausgesetzt werden, wenn die Sanktionen auf Lebensmittel nicht zurückgenommen werden.

USA:
Die USA können ihr teures, umweltschädliches Fracking-Gas (LNG) nach Europa verkaufen. Gleichzeitig schaden sie Russland als Konkurrent wirtschaftlich im erheblichen Maße. Zukünftige Waffenkäufe bzw. weitere Aufrüstung Europas befeuern die US-Rüstungsindustrie. Der US-Dollar wird langfristig weiter geschwächt, da Russland und dessen Geschäftspartner zukünftig in Rubel oder anderen Währungen abrechnen werden. Den Bezug von russischem Erdöl haben die USA nicht mit auf ihre eigenen Sanktionsliste genommen [7].

China:
China (auch Indien) als potenziell einzig verbleibender Großkunde für die Energie Russlands bekommen quasi ein Kaufmonopol und dadurch eine bessere Verhandlungsposition. Russland muss wahrscheinlich einen Preisabschlag vom Weltmarktpreis akzeptieren. Gleichzeitig kann China seine eigenen Produkte und die auf dem Weltmarkt gekauften Produkte mit einem Zuschlag an Russland verkaufen bzw. weiterverkaufen. Chinas alternativ zu SWIFT entwickelte Clearing- und Abwicklungssystem CIPS (Chinas Cross-Border Interbank Payment System) bekommt einen Schub nach vorne, da z.B. Russland und seine Handelspartner dem System beitreten werden, um ihre Geschäfte abzuwickeln.

Deutschland:
Unsere Gasversorgungssicherheit ist gefährdet. Auch in den heißesten Phasen des Kalten Krieges war die Sowjetunion/Russland ein zuverlässiger Handelspartner. Die Sanktionen führen dazu, dass die Energieversorgung für die Bevölkerung erheblich teurer wird. Deutschland wird bald die höchsten Energiepreise der Welt haben. Was dies bedeutet, wenn schon die Lohnkosten inkl. Sozialabgaben zu den höchsten der Welt zählen, ist vorhersehbar. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird erheblich geschwächt. Die energieintensive Industrie wird, um weiter auf dem Weltmarkt bestehen zu können, in Länder mit niedrigen Energiekosten auswandern und damit Arbeitsplätze mitnehmen. Für die Bevölkerung wird Energie, wie Gas, Öl, Benzin, Strom erheblich verteuert. Sie werden ärmer werden. Der ausfallende deutsche Export von ca. 26 Mrd. € (2017) nach Russland (14. Stelle) schadet unserer Wirtschaft [8].

Russland:
Russland verliert durch die drastischen Sanktionen erst einmal wirtschaftlich viele seiner bestehenden Geschäftsmöglichkeiten. Eine erhebliche Anzahl bisheriger Kundenbeziehungen wird beendet. Dadurch sind seine möglichen internationalen Kundenbeziehungen einzugehen weitgehend eingeschränkt, sowie der günstigste Kauf von Gütern auf dem Weltmarkt wesentlich behindert. Das bedeutet: Russland kann nicht mehr frei zu Weltmarktpreisen einkaufen und verkaufen. Russland wird durch den Ausschluss aus dem SWIFT-System auf das chinesische CIPS-System ausweichen können. Wahrscheinlich wird Russland sich mehr zur wirtschaftlichen Autarkie hinwenden und seine eigenen Produktionskapazitäten erweitern und neue aufbauen. Langfristig könnte dies sogar zu mehr Wohlstand für die eigene Bevölkerung führen. Die Hinwendung zu China ist unvermeidlich.


Unsere friedenspolitische Sichtweise


Jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit!

Somit hat der russische Präsident Putin und die Akteure seiner Administration ein Verbrechen an der Menschheit begangen. Auch der ukrainische Präsident und die Akteure seiner Administration haben ein Verbrechen an der Menschheit begangen, weil auch sie Krieg führen, und zwar in den Gebieten Donezk und Lugansk. Genau wie die vielen Akteure der NATO-Staaten Verbrechen an der Menschheit begangen haben, wenn sie Kriege geführt haben und immer noch führen. Es gibt da faktisch keinen Unterschied. Alle verhalten sich gleichermaßen feindlich gegen die Menschheit. Sie sind in der Gewaltkultur gefangen [9].

Auch „Sanktionen“ sind Krieg!

Sogenannte „Sanktionen“, Embargo oder auch Boykott, stellen real betrachtet Wirtschaftskriege dar, also Krieg. Diese Art von Krieg ist ebenfalls abzulehnen. Die Bundesrepublik Deutschland verzichtete stets auf Sanktionen gegen die USA, wenn diese in der Welt bombten. Das ist aus friedenspolitischer Sicht sehr zu begrüßen, weil Krieg nicht durch noch mehr Krieg/Sanktionen einzudämmen ist. Sanktionen gegen Russland (oder z.B. China) sind also ebenfalls abzulehnen.

Waffenhandel und Aufrüstung

Selbstverständlich sind Waffenexport und Waffenhandel sowie Aufrüstung, vor allem atomare Aufrüstung, aus friedenspolitischer Sicht abzulehnen, da sie eskalierend wirken. Abrüstung und Dialog sind immer oberstes Gebot.

Friedensgebot

Es gibt friedliches, freundliches und feindliches Handeln. Friedliches Handeln schadet niemanden (Win-Situation). Freundliches Handeln sind Vereinbarungen zwischen Verhandlungspartnern (Win-Win-Situation). Feindliches Handeln geht immer auf Kosten eines anderen (Win-Lose-Situation). Wenn wir eine zukünftig friedliche Welt erreichen wollen, können wir uns an diesen Handlungsprinzipien orientieren.

Empfohlenes Radio-Interview:

„Putins Krieg: Vorgeschichte, Mitverantwortungen, Sanktionen, Strategien, Krieg und Klima, Ausblick.“

Andreas Zumach ist ein deutscher Journalist und Publizist. Von 1988 bis 2020 war er Schweiz- und UN-Korrespondent für die tageszeitung (taz) mit Sitz am europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf. Er arbeitet als freier Korrespondent für deutsch- und englischsprachige Print- und Rundfunkmedien.
https://lora924.de/2022/02/25/putins-krieg-vorgeschichte-mitverantwortungen-sanktionen-strategien-krieg-und-klima-ausblick-andreas-zumach-im-interview/


Quellen:

[1] https://www.youtube.com/watch?v=F2iOAtNlleg

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung

[3] https://www.youtube.com/watch?v=DVTsD0pl2zY

[4] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html

[5] https://www.youtube.com/watch?v=VPyZX_Na5Hk

[6] https://www.deutschlandfunk.de/putin-rede-ukraine-100.html

[7] https://www.rnd.de/politik/usa-reagiert-auf-russischen-angriff-auf-die-ukraine-welche-sanktionen-veraengt-wurden-und-welche-Z75UZBWD3ZYUQNYGSCYV2EKTR4.html

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaft_Deutschlands#Au%C3%9Fenhandel

[9] https://www.friedenskultur-leben.de/index.php/innerer-frieden/3778-dieter-riebe-von-der-gewaltkultur-zur-friedenskultur