US-Bomber zerstören das letzte Krankenhaus in Kunduz und töten auch operierende Ärzte
Im Oktober 2015 wurden zwei Krankenhäuser der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ zum Ziel von gezielten Luftwaffenschlägen. Es wurde ein Krankenhaus in Afghanistan (Kunduz) durch die US-Luftwaffe zerstört und ein weiteres Krankenhaus in Jemen (Saada) durch die Luftwaffe von Saudi-Arabien. Die dürftige Berichterstattung hat wenig Betroffenheit in den Medien ausgelöst. Eine offizielle Untersuchung der Vorgänge ist nicht erwünscht.
Zwei Jahre nachdem die Bundeswehr ihren Stützpunkt im afghanischen Kunduz verlassen hatte, wurde die Stadt am 28. September von der Taliban-Miliz eingenommen. Wenige Tage später eroberten afghanische Streitkräfte die Stadt zurück. Dabei und bei den anschließenden Säuberungen wurden sie von US-Bombern unterstützt. Das Krankenhaus der Ärzte ohne Grenzen (MSF) war den afghanischen Streitkräften wegen seiner Neutralität seit längerem ein Dorn im Auge, da dort alle Verletzten behandelt wurden, so wie die ärztliche Ethik es vorschreibt. Im Juli stürmten afghanische Soldaten das Krankenhaus und durchsuchten es. Am 3.10. behaupteten afghanische Militärs, im Krankenhaus, in dem sich zu dieser Zeit über 190 Menschen befanden, seien feindliche Kämpfer, und forderten Luftunterstützung an. Daraufhin griffen US-Bomber an und zerstörten in einem ca. 90-minütigen Angriff gezielt den OP-Trakt und die Intensiv-Station. Dies war ein eindeutig völkerrechtswidriger Kriegseinsatz gewesen.
Die Einzelheiten über den Fall von Kunduz schildert Dr. Schamberg-Bahadori, der 2014 für Ärzte ohne Grenzen arbeitete.
Dr. Christian Schamberg-Bahadori, Kunduz, der 3.10.2015
Der Einstieg in den Ausstieg aus der Genfer Konvention?
Die Zerstörung des Krankenhauses in Kunduz am Wochenende des 3.10.2015 durch US-Luftstreitkräfte wirft viele Fragen auf, umso mehr, als es sich bei dem Betreiber des Krankenhauses um eine NGO (Non Govermental Organisation – Nichtregierungsorganisation) handelt, welche sich im Wesentlichen durch Spenden finanziert.
Die Internationalen Nachrichtensender (BBC, Euronews, Al Jazeera) berichteten über die Zerstörung des Krankenhauses. Sprecher von Ärzte ohne Grenzen waren sichtlich fassungslos und berichteten, dass die Angriffe über anderthalb Stunden unvermindert anhielten, selbst nachdem die Autoritäten kontaktiert worden waren. Ferner berichtete die Sprecher, dass sie die GPS-Koordinatenen allen am Konflikt beteiligten Parteien mitgeteilt haben.
Eine britische Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen erwähnte auf Al Jazeera, dass der Angriff gezielt den OP-Trakt und die Intensiv-Station zerstört habe. Alle Sprecher verneinten die Möglichkeit der Anwesenheit bewaffneter Kämpfer. Die britische Sprecherin schloss nicht aus, dass sich unbewaffnete, ehemalige Kämpfer als Patienten im Komplex befunden haben könnten.
Sprecher der US-Regierung drückten ihr Bedauern aus, jedoch ohne Entschuldigung. Ein Sprecher des afghanischen Innenministeriums behauptete, es hätten sich bewaffnete Kämpfer auf den Komplex aufgehalten.
Soweit die Berichterstattung in den internationalen Nachrichtenmedien.
Nachfolgend die wesentlichen Punkte aus einem Bericht von Ärzte ohne Grenzen:
Wie sah die Situation in Kundus tatsächlich aus: Ab Montag den 28.09.2015 zogen sich alle NGO's (Nichtregierungsorganisation) aus Kundus zurück - außer die Ärzte ohne Grenzen und 2 Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes (ICRC - International comite of the Red cross), die das Personal von Ärzte ohne Grenzen verstärkten. Die Zahl der behandelten Schwerverletzten erreichte 400 in 5 Tagen und auch die lokalen Mitarbeiter gingen, wegen der Arbeitsbelastung, nicht mehr nach Hause. Die Bettenzahl sollte von 92 Betten auf 150 Betten erhöht werden. Am 31.09.2015 versuchte Ärzte ohne Grenzen in Deutschland noch zusätzliche allgemeine Chirurgen kurzfristig zu rekrutieren (Keine US / Britischen Staatsbürger). In der Nacht zum 3. Oktober befanden sich ein 80-köpfiges, afghanisches Personal sowie 11 sogenannte Ex-Pat's (internationale Mitarbeiter) in den Gebäudekomplexen des Krankenhauses. Es wurde „nur“ 1 Gebäudekomplex angegriffen – das mit dem Operationssaal, dem dazugehörigen post-operativen Aufwachraum und der Intensivstation. Mit dem Beginn der Bombardierung wurden die Konfliktparteien nochmals informiert (Afghanische Regierung, US Militär und Taliban). Die Bombardierung dauerte 1 Stunde. Durch diesen Angriff starben bisher 12 Angestellte von Ärzte ohne Grenzen (4 Pflegekräfte, 3 Ärzte, 2 Personen des Wachpersonals, 1 Pharmazeut, 1 Verwaltungskraft), zusätzlich 1 Reinigungskraft sowie 10 Patienten: 3 Kinder starben in Ihren Betten, 3 Personen im Aufwachraum, 1 Person auf dem OP Tisch und 6 weitere Personen auf der Intensivstation. Außerdem gab es durch den Angriff über 30 Verletzte unter Ihnen 6 Schwerstverletzte Personen.
Hierzu einige ergänzende Anmerkungen :
Das Verhältnis zwischen NATO und NGO’s ist schon seit Jahren angespannt. Der frühere Nato-Generalsekretär Rasmussen hatte schon vor Jahren impliziert, dass es ein Gesamtkonzept der NATO unter Beteiligung der NGO's gäbe, welche an der Lösung des afghanischen Problems arbeiten. Diese Inklusion aller Aktivitäten der NGO's in das Nato Gesamtkonzept hat zu gezielten Tötungen von Ärzte ohne Grenzen-Mitarbeitern geführt. Rasmussen und andere – auch der deutsche Außenminister – haben damit das Sicherheitskonzept der NGO's, das im Wesentlichen auf strikter Neutralität basiert, einseitig zunichte gemacht.
Ein weiterer Dissens hat sich daraus ergeben, dass NGO's das Verteilen von Medikamenten durch NATO-Truppen als PR-Maßnahme ablehnen. Damit würde ein Bild erzeugt, dass NGO's der humanitäre Arm der NATO seien.
Ich selbst, ein sogenannter Ex-Pat (Mitarbeiter von auswärts), war im Jahre 2014 als Unfallchirurg für Ärzte ohne Grenzen auf Haiti. Somit kenne ich aus eigener Erfahrung ihre Arbeitsweise. Freiwillige werden einem Projekt zugeordnet und über die praktischen Aspekte der Hilfe vorab vollumfänglich informiert. Die Sicherheit der Mitarbeiter spielt eine entscheidende Rolle und so ist auch die Möglichkeit der Ex-Pats sich frei zu bewegen ggf. eingeschränkt. Bei mir (im Slum „Cite du soleil“ von Port au Prince) gab es Ausgangssperren und jedes Verlassen des Camps musste vorab genehmigt werden. Patienten durften keine Waffen haben. Es gab Evakuierungspläne. Wir erhielten klare Anweisungen, wie wir uns zu verhalten hatten. Alles war bis ins kleinste Detail bedacht.
Im Nachgang wurde neben der Informationsübermittlung ein „Debriefing“ (Einsatzabschlussbesprechung) vorgenommen, auch um ggf. den Bedarf an psychologischer Betreuung der Heimkehrer zu eruieren. Der Empfang, schon am Flughafen durch die Immigrationsbehörde war sehr freundlich. Die Haitianer waren sehr dankbar für die Hilfe, die Ihnen zuteil wurde.
Probleme der Heimkehrer sind zum einen die Verarbeitung der humanitären Zustände, Gewalterfahrung (direkt oder indirekt) und zum anderen die soziale – gesellschaftliche Ausgrenzung nach der Rückkehr (wie z.B. nach Einsatz in Ebola-Gebieten).
Die Diskussion, die sich jetzt entfacht hat, geht weg vom Kollateralschaden hin zur Rechtfertigung des Anschlages auf das Krankenhaus in Kundus - dies kommt einer Rechtsbeugung der Genfer Konvention gleich. Dieser Angriff ist ein Anschlag auf die Genfer Konvention. Ich meine, Politiker insbesondere in Europa sollten sehr gut darüber nachdenken, ob es politisch klug ist, die Genfer Konvention außer Kraft zu setzen. Ein Beenden der Genfer Konvention, eine systematische Reduzierung der zivilen Versorgungsstrukturen (es gibt nun gar kein Krankenhaus in der Region mehr) sind bestens geeignet weitere Flüchtlingsströme auszulösen.
Es war die medizinischen Fachzeitschriften „The Lancet“, welche im Nachgang des ersten Irakkrieges einen Artikel veröffentlichte, welcher die kriegsbedingte Gesamtmortalität der ersten drei Jahre veröffentlichte. Die Wissenschaftler hatten 2000 Familien repräsentativ selektiert und exakt alle Todesfälle dieser Familien analysiert und dokumentiert. Diese Datensätze wurden dann auf das gesamte Land hochgerechnet. Die Zahl derjenigen, welche aufgrund der nicht mehr vorhandenen Infrastruktur verstarben, liegt um ein Vielfaches höher als die Zahl der direkt durch die Kriegshandlungen getöteten Personen. Gleichwohl sind sie auch Opfer des Krieges.
Zurück zum Thema Krankenhaus-Bombardierung in Kundus:
Die Politik in Deutschland sei an dieser Stelle eindringlich aufgerufen hier eine wahrheitsgemäße Aufklärung herbeizuführen. Die gezielte Zerstörung des Krankenhauses in Kundus hat zivile Strukturen getroffen. Dadurch werden weitere Flüchtlingsströme ausgelöst. Menschenrechte und die Genfer Konvention, als Teil derselben, sind nicht propagandistische Instrumente, welche der Willkür des tagespolitischen Geschäftes dienen, sondern Eckpfeiler des internationalen Zusammenlebens. Sie sind als solche zu schützen und Verstöße sind, ungeachtet der Stellung des Täters, zu ahnden. Sie weiter zu untergraben wird nicht geahnte Folgen für das Zusammenleben haben.
Viele Freiwillige auf dem gesamten Globus werden das sicherlich sehr aufmerksam beobachten und es wird Konsequenzen haben, in wieweit NGO’s (wie z. B. Ärzte ohne Grenzen) auch in Zukunft noch tätig sein können. Es wird sich auch zeigen müssen, ob die Genfer Konvention noch eine Zukunft hat.
Dr. Christian Schamberg-Bahadori ist Orthopäde und Unfallchirurg und war 2014 für Ärzte ohne Grenzen tätig.
Siehe auch: Ärzte ohne Grenzen veröffentlicht Bericht zu Angriff auf Krankenhaus in Kundus vom 5.11.2015
Ein weiterer lesenswerter Artikel über das Thema: Wenn Krankenhäuser zum Ziel werden