Abschaffung der pazifistischen Verfassung Japans?
Premierminister Shinzo Abes anhaltende Militarisierungskampagne
von Saul Takahashi (Japan)
Die Bemühungen des japanischen Premierministers Shinzo Abe, die pazifistische Verfassung Japans zu ändern, hat im Ausland viel Aufmerksamkeit erregt. Diese Aufmerksamkeit ist durchaus angebracht, und es ist zu hoffen, dass sie anhalten wird. Wie auch immer, die meisten Medien im Ausland bringen nicht richtig hinüber, wie dramatisch und wie schnell die öffentliche Debatte in Japan in die falsche Richtung geht. Abe hat im Wesentlichen allen Aspekten des japanischen Pazifismus den Krieg erklärt, und die Folgen können nur katastrophal sein – für das Land und für die Welt.
Ein Beitrag im einflussreichen japanischen Wochenmagazin Bungei Shunju anfangs September zeigt, wie dramatisch die öffentliche Debatte in Japan sich in den letzten Jahren geändert hat. Ruka Miura, ein junger konservativer Akademiker mit engen Beziehungen zu der gegenwärtigen Regierung, argumentiert offen für eine Rückkehr zur Wehrpflicht in Japan, indem er behauptet, dass „die Aufteilung der Kosten an Blut“ den einzigen Weg darstellt, um Demokratie und Pazifismus zu verbinden. Verblüffenderweise präsentiert Miura Israel als ein gutes Beispiel, wo ein „höheres Niveau der Demokratie“ gewährleistet, dass die Bürgerschaft, die mit der Realität des Krieges wohl vertraut ist, pazifistische Bewegungen anführt. Klarerweise hat Miura nichts mitgekriegt vom letzten israelischen Überfall auf Gaza, wo brutale Attacken, die über 2.100 Palästinenser (von denen mindestens 70% laut der UNO am Kampf nicht beteiligte zivile Opfer sind) getötet haben, von orgiastischen Mobs in ganz Israel unterstützt wurden, die „Tod den Arabern“ brüllten und Antikriegsdemonstrationen attackierten. Auf der anderen Seite ist der Hinweis auf Israel als glänzendes Beispiel für Demokratie bezeichnend für das Klima in der derzeitigen Regierung – der israelische Premierminister Netanyahu hat Japan im Mai 2014 besucht und er und Abe haben vereinbart, die „Verteidigungs“-Beziehungen zu stärken.
Pazifismus war lange Zeit der Hauptpfeiler der japanischen Nachkriegsdemokratie, im Ausland wie auch im Inland. Eine Reihe von aufeinanderfolgenden rechtsgerichteten Regierungen und besonders die derzeitige Regierung Abe haben bemerkenswert erfolgreich eine rechtsgerichtete Agenda vorangetrieben, die insgesamt zu einem Ende des pazifistischen Japan führen könnte, wie wir es kennen. Die Frage der Wiedereinführung der Wehrpflicht geht weit über den einen Artikel in einer konservativen Zeitschrift hinaus. Führende Politiker in verschiedenen Parteien, darunter (aber nicht nur) die herrschende liberaldemokratische Partei (LDP), sprechen jetzt öffentlich über die Attraktivität der Wehrpflicht – ein Thema, das vor zehn Jahren noch politischer Selbstmord gewesen wäre. Wirtschaftsführer ihrerseits haben militärische „Praktika“ vorgeschlagen für Studenten, die Schwierigkeiten haben bei der Rückzahlung der teuren Studiengebühren an den Universitäten. Grob gesagt, es werden Versuche unternommen, die Fassade einer öffentlichen Zustimmung zu schaffen.
Die LDP wollte schon immer die pazifistische japanische Verfassung ändern, die in ihrem berühmten Artikel 9 „für alle Zeiten dem Krieg als einem souveränen Recht des Landes abschwört.“ Tatsächlich hat die LDP einen Entwurf einer Verfassungsänderung veröffentlicht, nach dem der verhasste Artikel 9 endgültig abgeschafft und durch breitere, ausgedehntere Maßnahmen ersetzt werden soll. Der Verfassungsentwurf der LDP liest sich wie etwas, was für ein despotisches diktatorischen Regime passt, mit weitreichenden Einschränkungen grundlegender Rechte, einer Verpflichtung, die Fahne und die Nationalhymne zu respektieren und freier Hand für die Regierung, Verdächtige zu foltern.
Immerhin bestehen in Japan größere Hürden für die Änderung der Verfassung, darunter eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Parlaments und die mehrheitliche Unterstützung in einem Referendum. Da das zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, änderte das Kabinett Abe im Juli 2014 die Interpretation des Artikels 9 durch die Regierung dahingehend, dass die Ausübung kollektiver Selbstverteidigung erlaubt wird – das heißt den japanischen Streitkräften gestattet wird, sich am Kampf zu beteiligen, wenn die Streitkräfte eines verbündeten Landes angegriffen werden. Vorhergehende Regierungen hatten immer festgestellt, dass kollektive Selbstverteidigung durch die Verfassung untersagt ist aufgrund des „schlüpfrigen Abhangs,“ zu dem eine solche Situation führen würde. Abe hat die jahrzehntelange Politik auf einen Schlag abgeschafft und effektiv eine Verfassungsänderung durch die Hintertür herbeigeführt.
Viele von der Regierung veröffentlichte Beispiele dafür, wie die neue Politik in realen Situationen funktionieren würde, wurden von Experten als gesetzlich und logisch fragwürdig bezeichnet. Aufschlussreicher ist, dass alle diese Beispiele positiv sind, das heißt alle zeigen Situationen, in denen der Einsatz von japanischen Militärkräften erlaubt sein würde, während es keine Beispiele für Fälle gibt, in denen das gesetzlich verboten wäre. Gleichzeitig hat die Regierung auch festgestellt, dass ein ständiger Fluss von Erdöl in das Land lebenswichtig ist für das „Überleben des Landes,“ und dass daher japanische Militärkräfte für diesen Zweck in den Mittleren Osten geschickt werden könnten. Es ist klar, dass die Regierung einen Freibrief will, um zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika militärische Interventionen im Ausland durchzuführen – und das willkürlich gestaltete Geheimhaltungsgesetz, das im Dezember 2013 unter Protesten im eigenen Land und des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte beschlossen wurde, wird ein Abdrehen der öffentlichen Debatte über jegliche militärischen „Geheimnisse“ gewährleisten.
Abe hat auch die lang anhaltende Politik der japanischen Regierung gegen den Export von Waffen abgeschafft, wieder ohne ausreichende Erklärung oder demokratischen Prozess. Etwas mehr als einen Monat nach dieser Ankündigung wurde verlautbart, dass der stellvertretende Verteidigungsminister japanische Waffenproduzenten auf die Pariser Rüstungsmesse begleiten würde. Anfang Juli wurde der erste Waffendeal bekanntgegeben, bei dem Misubishi Heavy Industry HighTech-Teile für die amerikanische PAC-2 Rakete liefern würde (die wiederum von den Vereinigten Staaten von Amerika nach Qatar und in andere Länder exportiert wird). Es ist schwer, nicht zu vermuten, das vieles von dem nicht schon seit langer Zeit vorbereitet worden ist. Der neue globale Händler des Todes ist auf den Plan getreten.
Militärische Überfälle im Ausland, Waffenexporte und Wehrpflicht sind die nächsten Schritte. Japan bewegt sich eindeutig in Richtung Abschaffung seiner pazifistischen Grundsätze und Rückkehr zu seiner militaristischen Vergangenheit. Obwohl viele im Land (auf beiden Seiten des politischen Lagers) wachsende Spannungen mit einem selbstbewussteren China als Grund für Japans dramatische Änderungen anführen, ist das bloß ein Auslöser – und ehrlich gesagt ein fragwürdiger, da der Gedanke an einen Krieg mit China irgendwann in der Zukunft jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt.
Im Kern liegt die Weigerung Japans, die sozialen Strukturen, die hinter der Entstehung des Militarismus in den 1930er Jahren standen, zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Das kann man sehen an den anhaltenden Besuchen des Yasukuni-Schreins durch Regierungsmitglieder und an den ständigen Bemühungen, die Rolle der Regierung bei der Versklavung der „Komfortfrauen“ abzustreiten – aber es geht weit darüber hinaus, und es erfordert eine nationale Anstrengung der Gewissenserforschung und der Änderung Jahrhunderte alter Machtstrukturen. Eine aufgeklärte öffentliche Debatte in dieser Frage gibt es leider fast nicht. In ein paar Jahren ist es vielleicht zu spät.
Übersetzt aus dem amerikanischem von Klaus Madersbacher und veröffentlicht auf seiner Webseite http://www.antikrieg.com