Erich Maria Remarque - Im Westen nichts Neues

von Erich Remarque (1931/1932)

Auf die Frage, ob mein Buch Im Westen nichts Neues eine bestimmte Absicht zugrunde lag, kann ich nur wahrheitsgemäß sagen, dass ich meine spontanen Erinnerungen an den großen Krieg lediglich wiedergeben, was ich sah und erlitt, genau wie Millionen meiner Kameraden während fünf Jahren Totschlägerei. Beruht, der so oft erhobene Einwand auf Wahrheit, dass mein Buch einen so verhängnisvollen Einfluss auf die junge Generation hatte, dass es das edle Gefühl des Patriotismus, den Sinn für das Heldenhafte tötet, diese seit undenklichen Zeiten höchsten Tugenden der teutonischen Rasse? Wenn überhaupt irgendeine grundlegende Idee mich erfüllte, so war es Vaterlandsliebe, im wahren und edlen, nicht im engen chauvinistischen Sinn des Wortes, und Huldigung an Heldentum. Das bedeutet jedoch nicht blinde Begeisterung für Blutbad auf den Schlachtfeldern noch Billigung moderner Kriegsführungen mit all ihrem Aufwand von Maschinen und mechanischen Kräften. Krieg ist in allen Zeiten ein brutales Werkzeug der Ruhmgier und der Machtlust gewesen, immer im Widerspruch mit den Grundprinzipien der Gerechtigkeit, die allen moralisch gesunden Menschen innewohnt. Nicht einmal eine ernsthafte Beleidigung der Gerechtigkeit selbst kann den Krieg Rechtmäßigkeit verleihen.

Vor der Zeitspanne 1914/18 waren wir gewöhnt, nur die strahlende und heroische Seite des Krieges zu sehen. Die Geschichtsbücher verzeichnen den Ruhm tapferer Helden, die ewiges Ansehen erwarben, indem sie für ihr Land eroberten, fochten und starben. Diese Männer sind unsterblich, weil sie furchtlos waren und tapfer. Seit der Vervollkommnung und der zunehmenden Präzision der Feuerwaffen, den Gebrauch von schwerer Artillerie, Aeroplanen, Tanks und Gas, seit der Einführung mechanischer Kampfmaschinen und Industriekräfte, charakteristisch für moderne Kriegsführend, wich die aktive Tapferkeit des Soldaten, der den Gegner nicht fürchtet, gezwungenermaßen einem rein passiven Mut, nahe verwandt dem Fatalismus des Orientalen.

Besonders während der letzten zwei Jahre des Krieges hatte die technische Organisation der Kampfweise so verblüffende Fortschritte gemacht, dass der einzelne ganz vom Zufall abhängig geworden war. Viele Soldaten in Regimentern, die fast vollständig in Schützengräbern aufgerieben wurden, haben während zweier oder dreier Jahre Stellungskrieg kaum jemals den Feind von Angesicht zu sehen bekommen, mit Ausnahme der Gefangenen, die gemacht wurden nach irgendeinem der entscheidenden Vorgehen. Krieg im alten heroischen Sinn des Wortes hatte aufgehört zu existieren. Er war eine sinnlose Schrecklichkeit geworden, in dem mechanische Kraft zerschmetterte, niederschlug und verstümmelte. Den Mann im Schützengraben bleibt nichts zu tun, als in passiver Resignation zu warten, ob es ihn treffen wird, wie es Hunderte und Tausende seiner Kameraden traf; und wenn er heil hervorgeht, so ist es nicht dank persönlicher Tapferkeit, sondern nur dank seinem guten Stern, dank dem Schicksal. Ich möchte ein Beispiel von einer gewissen Ähnlichkeit anführen: gesetzt den Fall. Ich bin in einer Kompanie von Soldaten, in einer Linie aufgestellt. Jeder 5. Mann soll vor's Kriegsgericht gestellt werden. Wird mich das Todeslos treffen? Oder komme ich lebendig davon? Ich kann nur ergeben warten, was das Schicksal beschließt. Persönliche Tapferkeit, Mut sind zu allen Zeiten bewundert worden und werden es immer sein, solange sie sich nicht in einer sinnlosen Form äußern. Konflikte politischer oder diplomatischer Art zwischen Nationen sollten auch durch entsprechende Mittel beigelegt werden. Nur dann würde ein Krieg zur Verteidigung und ultima ratio, wenn die europäische Zivilisation wieder einmal, wie durch die Hunnen im Mittelalter, bedroht würde.

Patriotismus ist ein hoher und edler Begriff, aber Chauvinismus (Glaube an die Überlegenheit der eigenen Gruppe) ist eine gefährliche Drohung geworden, seit eine Welle von Nationalismus die modere Welt überflutet und das Evangelium des Hasses verbreitet und rohe Gewalt predigt. Dieser Chauvinismus ist in allen europäischen Ländern zu finden, in Italien sowohl wie in Deutschland.

Nach der Meinung der Chauvinisten ist nur ein aggressiver Nationalismus wirklich patriotisch, während sie Pazifismus oder nur Verdammung der Kriegsschrecken und Friedensliebe Feigheit nennen. Sie vergessen jedoch, dass in der gegenwärtigen ruhelosen Zeit der Kämpfer weniger Mut beweist als der, der es wagt sich als Pazifist zu bekennen. Aus solchen Überlegungen heraus erklärt sich, dass die äußersten Radikalen sich gegen mich wandten, während die gemäßigten Elemente sogar im konservativen Lager, die Wahrheitstreue anerkennen, mit der ich die Schrecklichkeiten des Krieges schilderte. Niemand kann leugnen, dass ich, was groß und edel in meinem Land ist, liebe und das ich aus tiefsten Herzen wünsche, dass Deutschland sich erholt von seinem augenblicklichen Elend.

Als der Film Im Westen nichts Neues herauskam. Bedienten die politisch einflussreichen Kreise sich aller erdenklichen Mittel, um das Aufführungsverbot in Deutschland durchzusetzen. Wie man weiß, hatten sie Erfolg. Der Zensor verbot die Aufführung des Films mit der Begründung, dass die Tapferkeit des deutschen Soldaten nicht in ihrer ganzen Größe, in ihrem ganzen Ruhm gezeigt wird. Solch eine Behauptung ist entschieden ungerecht, da der Film nur die menschliche Seite des Frontlebens zeigt. Dass Opposition gegen meine Werke nicht immer von neutraler Seite kommen, zeigt amüsant ein Zwischenfall, der sich seinerzeit in Verbindung mit meinem Buche abspielte. Das führende nationalsozialistische Blatt hatte einen Artikel von einem Soldaten veröffentlicht, der vier Jahre lang in den Schützengräbern focht. Der Angriff pries den Artikel. Eine wörtliche Abschrift von fünf Seiten meines Buches, als grandiosen Tatsachenbericht, nicht „Remarques Erfindung“.

Mein Buch hatte Erfolg, weil er es in aller Einfachheit die menschliche Seite des Lebens in den Schützengräben wiedergab, menschliche Größe und Gebrechlichkeit, Mut und Schneid. Hätte ich versucht, den Kriegshelden auf ein übermenschliches Piedestal (Sockel) zu stellen, das Buch würde niemals soviel Erfolg gehabt haben. Heldentum ist unabhängig von Erfolg. Die deutsche Armee, der deutsche Soldat sind niemals im wahrsten Sinne heldenhafter gewesen als 1918, als Deutschlands Stern verblasste. Zu jener Zeit war die technische Überlegenheit des Feindes so überwältigend geworden, dass das Heer nur hartnäckig bis zum bitteren Ende Widerstand leisten konnte. Jeden Nerv spannend in einem heldischen Verteidigungskrieg.

Niemand kann wünschen, dass eine so furchtbare Zeit noch einmal kommt. Der größte technische Fortschritt könnte einem solchen Wunsch nicht rechtfertigen. Kein Vernünftiger kann eine Epidemie herbeiwünschen wie etwa die Pest, damit Ärzte daran ihre Geschicklichkeit zeigen.

Erich Maria Remarque (1898-1970), aus „Ein militanter Pazifist“, Herausgegeben von Thomas E. Schneider