Gewaltfreiheit ist etwas anderes als Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit bezeichnet das Fehlen von Gewalt, die Abwesenheit von Gewalt. Gewaltfreiheit dagegen die Anwesenheit einer positiven, aktiven und aufbauenden, ja einer schöpferischen und heilenden Kraft. Wer gewaltfrei handelt, ist frei von dem Zwang, Gleiches mit Gleichem vergelten zu müssen. Er ist innerlich frei von Gewalt.

Gandhi nennt die Gewaltfreiheit auch Gewaltlosigkeit der Starken (nonviolence of the strong) im Unterschied zur Gewaltlosigkeit der Schwachen (nonviolence of the weak), womit er den bloßen Gewaltverzicht meint. Gandhi hat für diese geheimnisvolle Kraft ein eigenes Wort geprägt: Satjagrah, was soviel heißt wie Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, Kraft der Liebe oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft). Satjagrah im Sinne von Wahrheits- oder Liebeskraft ist dem von Jesus geprägten Begriff der Nächsten- und Feindesliebe nahe verwandt.

Gleichwohl bedeuten sie nicht dasselbe. Nächsten- und Feindesliebe wird nämlich oft so verstanden oder (wie ich meine) missverstanden, dass man der Gewalt nicht widerstreben soll, das heißt, dass man sie hinnehmen soll, indem man sich ihr unterwirft und sie erduldet. Das ist bei Gandhi gerade nicht gemeint. Satjagrah ist eine aktive, kämpferische Haltung, die zwar bereit ist, Gewalt hinzunehmen ohne den Wunsch nach Rache oder Vergeltung, die sich aber keineswegs unterwirft, sondern im Gegenteil an der Wahrheit festhält, für die Wahrheit kämpft. Diese Haltung führt - nicht sofort und nicht in jedem Fall - dazu, dass der Gegner die berechtigten Interessen der gewaltfrei Kämpfenden anerkennt und ein Friede erreicht wird, der auf der Zustimmung aller Beteiligten beruht. Satjagrah ist folglich eine Methode der Konfliktaustragung, die Konflikte wirklich, weil dauerhaft zu lösen vermag.

Wolfgang Sternstein (*1939)