Gewaltfreiheit wirkt nach Gandhi geradezu wie ein Naturgesetz oder, wie er es nennt, "mit wissenschaftlicher Genauigkeit". Wir wissen, dass eine Säure durch eine Lauge neutralisiert werden kann und umgekehrt. Es gilt deshalb folgender Dreisatz: Wo wenig Säure ist, genügt auch wenig Lauge, um sie zu neutralisieren. Wo viel Säure ist, braucht man viel Lauge, und wo sehr viel Säure ist, braucht man sehr viel Lauge, um sie zu neutralisieren. Das Gleiche gilt für die Gewalt: Wo wenig Gewalt ist, genügt wenig Gewaltfreiheit, wo viel Gewalt ist, braucht man viel Gewaltfreiheit, und wo sehr viel Gewalt ist, bedarf es sehr vieler Gewaltfreiheit, sie zu neutralisieren und wieder aus der Welt zu schaffen.

Gewaltfreie Aktion ist demnach eine universale Methode der Konfliktlösung. Sie ist in Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwendbar, d.h. auf der persönlichen Ebene ebenso wie auf lokaler, regionaler, nationaler, internationaler, ja selbst auf globaler Ebene. Allerdings muss sie zuerst auf der persönlichen Ebene gelernt und eingeübt werden. Sie kann deshalb nur in jahrelanger Arbeit von den gesellschaftlichen Graswurzeln her aufgebaut werden.

Wolfgang Sternstein (*1939)