Eine wahnsinnige Gesellschaft

von Gerd Heming (Bund der Pflegeversicherten e.V.)

Er hat dreiundzwanzig Menschen getötet, er hat sie erschossen. Er konnte das, denn er war ausgebildeter Scharfschütze und das Töten von Menschen gehörte zu seinem Job. Auch war er pensionierter Polizeibeamter. Er hieß Robert K., war 74 Jahre alt, und bewohnte ein Appartement in einer “Seniorenresidenz”. “Ich” gestand er zornig dem Untersuchungsrichter, “ich erzeugte lediglich eine kleine Katastrophe, um eine größere aufzudecken”.

Was er aufdecken wollte, das waren die katastrophalen Zustände, wie sie in den deutschen Pflegeeinrichtungen, Altenheimen oder Seniorenstiften an der Tagesordnung sind. Wo gegen er aufbegehrte, das war eine Gesellschaft, die all jene aus ihrem Wirkkreis entfernte, die dem neoliberalen Raubtierkapitalismus nicht bzw. noch nicht von Nutzen waren. Dabei handelte es sich um die Kinder, die dem neoliberalen System noch nicht nützlich waren – und es handelte sich dabei um die Alten, die für das neoliberale Denken überflüssig geworden waren. Es herrscht purer Utilitarismus, d.h. es herrscht kaltes Kosten und Nutzen denken. Robert K. wollte zeigen, dass in dieser Gesellschaft die größte Gefahr für den Menschen vom Menschen selber ausging. Und doch bewies er durch eben sein Verbrechen, dass er sich in Nichts von der Gesellschaft unterschied, die er blindwütig verachtete. Er sah nicht, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf war, denn ihm fehlte, ebenso wie alle jene, die er verachtete, Urteilsfähigkeit und Urteilskraft. Er war, obwohl selber Opfer, zum Wolf für jene Männer und Frauen geworden, die ebenfalls Opfer waren. Robert K. trennte nicht die Spreu vom Weizen, er unterschied nicht Opfer und Täter, er war urteils-un-fähig. Robert K. unterlag dem irrigen Denken, dass er durch seine schreckliche Tat die Gesellschaft aufrütteln und aufwecken würde. Er war blind. Denn diese Gesellschaft war durch derartige Taten nicht aufzurütteln, schon gar nicht aufzuwecken. Diese Gesellschaft war, wie er, urteils-un-fähig und urteils-schwach, er war, ebenso wie die Gesellschaft, in der er lebte, geistig Ungeboren. Wie wahnsinnig diese Gesellschaft wirklich ist, zeigt sich darin, dass sie diejenigen mit Ehrungen und mit Orden überhäufte, die am Untergang alles Lebendigen am fleißigsten strikten.

Er begriff nicht, dass diese Gesellschaft es seit mehr als dreißig Jahren mit einer neuen Variante der Unterdrücker zu tun hat, mit den Globalisieren, den „Masters of the Universe“, den Reichen und Superreichen. Diese Geistig Fehlgeborenen verstanden sich selbst als Beherrscher der Globalisierung, sie verstanden sich als die neuen Herrscher der Welt. Billionen und Aberbillionen Dollar, Euro oder Yen haben sie an sich gerafft. Seelenverkäufer sind sie. Sklavenhändler. Es treibt sie der Wille zur Macht. Nicht nur zur Macht über Menschen und Völker – zur Macht über die ganze Welt. Sie schaffen sich ihre eigenen Gesetze, und mit „gesetzlicher Legitimation“ sind sie dabei, sich die Menschheit gefügig zu machen. Mit gesetzlicher Kraft frieren sie deren Freiheitsgrade wütig ein. Und mit Gesetzesmacht zwingen sie die sozial erzeugte Kälte auf Minusgrade herab. Versklavung ist ihr Ziel. Der Rest der Welt als Verfügungsmasse. Deswegen predigen sie Flexibilität, deswegen predigen sie Deregulierung, deswegen predigen sie Privatisierung.

„Die reale, positive Macht des Bösen“ formuliert Hans P. Schmidt, „ist nur zu verstehen, wenn das Böse nicht einer Schwäche des Willens beziehungsweise einer unbestimmten Willkür entspringt, sondern im Willen selbst gründet, nämlich im aktiven „Eigenwillen“ des Subjekts, das sich als Einzelner, als Gruppe oder auch zum Beispiel als Nation gegen den „Universalwillen“ durchsetzen kann. Wenn der „Eigenwille“ danach strebt, ‚das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein, dann ist er als partikularisierter Wille böse.“

Gegen den Utilitarismus, der den Kern dieses Bösen in sich trägt, helfen keine Aktionen im Sinne Robert K.s. Es helfen auch keine Demonstrationen. Und die vielfältigen Reden und Artikel, die auf die verheerenden Zustände in der Pflege, in der Gesundheit, in der
Umwelt und Mitwelt, in der Luft, in der Erde, im Wasser und beim Feuer, sprich Energie, hinweisen, sind nichts als ein Rauschen im Wind. Nichts stimmt zum Beispiel an der Theorie von der Privatisierung gesellschaftlichen Eigentums. Sie hat den Staat, die Gesellschaft und die Wirtschaft nicht aus den finanziellen und ebenfalls nicht aus den den Arbeitsmarkt betreffenden Schwierigkeiten heraus gebracht und in jenes Land geführt, in dem Milch und Honig fließt. Privatisierung, so ihre Protagonisten, würde Arbeit schaffen - nicht für einige wenige, nein, für Millionen arbeitslose Menschen.

Die Privatisierung hat die Arbeitslosigkeit und die prekären Beschäftigungen explodieren lassen, sie hat den Staat, die Länder, die Städte und Gemeinden nicht reicher, sie hat sie ärmer gemacht, sie hat sie nicht selten ruiniert. Ganz zu schweigen von diffusen Leasingverträgen, unter denen das Eigentum der Bürger, der Länder und Gemeinden zur Manipuliermasse nebulöser Geschäftemacher verkommen ist. Nicht zu reden von der wachsenden Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger, denen die Privatisierung täglich „teurer“ und teurer wird. Nicht zu reden vom grundgesetzlich suspekten Verhökern des gesellschaftlichen Eigentums. Denn Privatisierung heißt Beraubung.

„Vielleicht zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte“, offenbarte vor einiger Zeit der renommierte Wirtschaftsgelehrte, Professor F. Malik, von der Managerschule St. Gallen, „haben wir nicht eine Krise der Wirtschaftspolitik, sondern eine Krise des Managements. Die Krise der Wirtschaft – so schlage ich vor, es zu sehen – ist eine andere als die bisherige. Sie ist aus Irrtümern und Irrlehren über Unternehmensführung entstanden. Die falschen Vorstellungen über Unternehmensführung haben wichtige und große Teile der Wirtschaft erfasst – glücklicherweise nicht alle. Insbesondere die vielleicht nicht beabsichtigte, aber de facto doch entstandene Allianz von Finanz- und Medienbetrieb, von Finanzanalysten einerseits und Wirtschaftsjournalisten andererseits, hat die entscheidende Dynamik erzeugt, das Momentum und schließlich auch die Sprengkraft“. Versprechen gebrochen. Die Versprechen, mit denen Politiker, Banker, Versicherer und Wirtschaftswissenschaftler die Privatisierungen etwa der Telekommunikation, der Deutschen Bundesbahn, der Strom-, Gas- und Wasserwirtschaft, der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung schmackhaft machten, sind mittlerweile ausnahmslos gebrochen.

Völlig in die Irre gingen die Protagonisten der Privatisierung, weil sie sich von der Liberalisierung einen Schub bei Investitionen und Innovationen erhofften. Wirklich Neues schuf keine der neuen Privatisierungen. Die meisten setzen auf Imitation statt auf Innovation. Die Folge ist ein ruinöser Preiskampf, der für die Zukunft nichts Gutes ahnen lässt.Es ist hoch an der Zeit dem allgemeinen Privatisierungswahn – der nichts anderes als Enteignung des gesellschaftlichen Vermögens bedeutet und eine Folge des neoliberalen Kapitalismus ist – den Todesschuss zu geben. Es ist auch an der Zeit, die Protagonisten der Privatisierung zur strafrechtlich relevanten Verantwortung zu ziehen. Zunächst aber müssen ihnen alle Bezüge – seien sie staatlich oder privat - und ebenso ihre privaten Vermögen gepfändet werden – selbst unter der „Gefahr“, dass ihnen nur mehr jener Regelsatz als Lebensgrundlage bleibt , den sie leichtfertig und gewissenlos vor einiger Zeit in den „Hartz-Gesetzen“ selbst festgeschrieben haben.
Ein Minister etwa, der kürzlich unsere Autobahnen, die wir mit unseren Steuergeldern aufgebaut und finanziert haben, die folglich unser aller Eigentum sind, an private Investoren verkauft, vergeht sich an „fremdes Eigentum“ und ist als Verbrecher zu behandeln. Es ist für unser aller Überleben von existentieller Bedeutung, dass sich die Gefängnistore für solche Minister und Ministerinnen endlich weit öffnen. Die Zeit ist reif dafür.

„Wenn heute“, so der ehemalige Bensberger Kreis, „in den unterschiedlichen politischen Lagern eine so einmütige Zustimmung zur Politik der Privatisierung und völligen Liberalisierung des Marktes zu beobachten ist, wo doch nach 1945 alle, wenn auch mit verschiedenen Ansätzen in eine solidarische Gesellschaft aufbrechen wollten, dann ist die Politik anscheinend immer mehr eine Gefangene des alles beherrschenden modernen Kapitalismus geworden und hat ihren gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag aufgegeben. Sie ist so (wie ein Großteil der Medien) zum Handlanger einer von Kapitalinteressen geleiteten Ideologie geworden, bei der das Geld – wie es bei Leitbildern aller anderen Ideologien auch üblich ist – zum Selbstzweck wird. Offenbar hat die Politik sich von dem als alternativlos dargestellten Gesetz des Kapitalismus, der totalen Vermarktung um des Gewinnes willen und der daraus folgenden neoliberalen Ideologie, in Zugzwang bringen lassen.“

Es ist diese Politik, es sind diese dem jeweiligen Modewahn ausgelieferten Politiker, die den derzeitigen negativen gesellschaftlichen Zeitgeist und die Finanz- und Wirtschaftskrise zu verantworten haben. „Denn sie fliegen“ um es mit Erich Kästner zu sagen, „wie mit Engelsflügeln immer auf den ersten besten Mist. Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln! Und sie sind auf
keine Art zu zügeln, wenn sie hören, das was Mode ist. – Wenn’s doch Mode würde zu verblöden! Denn in dieser Hinsicht sind sie groß. Wenn’s doch Mode würde, diesen Kröten jede Öffnung einzeln zuzulöten! Denn dann wären wir sie endlich los.“

Wir haben im Verlauf der 240 Jahre seit der Aufklärung die Macht des Klerus und des Adels, die Macht der Fürsten, Könige und Kaiser überwunden und besiegt. Wir haben die Leibeigenschaft abgeschüttelt und die selbstverschuldete Unmündigkeit - und wir haben uns im Zuge der Aufklärung zu freien Menschen empor geschwungen. Deshalb werden wir es nicht zu lassen, wenn uns heute die Macht des Geldes erneut zu Untertanen machen will. Wir bekennen uns zu den allgemeinen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Wir sind freie Menschen in einem Land der Freien. Wir folgen dem Wahlspruch der Aufklärung, den unsere Väter uns als größtes Erbe hinterlassen haben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist der Wahlspruch der Aufklärung.“

„Die neuen Herrscher der Welt“, sagt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, „ - die Beutejäger des globalisierten Finanzkapitals, die Barone der transkontinentalen Konzerne, die Börsenspekulanten - häufen ungeheure Vermögen an. Mit ihrem Tun zerstören sie den Staat, verwüsten die Natur und entscheiden jeden Tag darüber, wer sterben muss und wer überleben darf. Willfährige, effiziente Verbündete stehen ihnen zu Diensten, allen voran die Funktionäre der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Weltwährungsfonds.“ - Der Geist des Bösen weht von vielen Hügeln her. Ihr Ziel besteht darin, es Banken zu ermöglichen, Kapital aus der ganzen Welt anzulocken, und sich Zugang zu billigem Kapital zu verschaffen. Es ist ein Projekt aus den siebziger Jahren. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds starteten dieses Projekt. Wir nennen es heute Neo-Liberalismus.

Es beruht auf der Basis von vier Schlüsselelementen:

  • der Deregulierung . Dieses Element startete mit der Deregulierung der Finanzmärkte auf der ganzen Welt. Kapital sollte sich frei von einem Land zum anderen bewegen können.

  • Der zweite Teil besteht in der Liberalisierung der Handelsströme. Es geht darum, Handelsbarrieren abzuschaffen, die sehr sorgfältig von den Entwicklungsländern zum Schutz ihrer Industrien in vielen Jahren aufgebaut worden sind.

  • Die dritte Maßnahme besteht in der völligen Abschaffung des Staates, um die Interventionsmöglichkeiten des Staates zu reduzieren. Eine Maßnahme, die uns aus den Reden vieler FDP-Politiker nicht unbekannt ist. Anders gesagt werden die Steuereinnahmen des Staates so reduziert, dass die Staaten nichts mehr tun können, um ihre Bürger zu schützen. Neunzig Prozent der Bevölkerung Deutschlands sind davon betroffen.

  • Die vierte Maßnahme verlangt von den Staaten, ihre Industrien zu privatisieren. Dabei wird mehr oder weniger sicher gestellt, dass bei dieser Privatisierung die Industrien unter ihrem tatsächlichen Wert an fremde Kapitalgeber verkauft werden.


Es geht den „Masters of the Universe“ um totale Kapitaldeckung. Die solidarischen Absicherungen des Bürgers, die Krankenversicherung, die Pflegeversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die Altersabsicherung, sollen aufgelöst und vom Umlageverfahren in Kapitaldeckungsverfahren umgewandelt werden. Erst dann haben sie ihr Ziel, die Menschen der Welt zu ihrer Verfügungsmasse zu machen, endgültig erreicht.

Wenn wir unsere Würde erhalten wollen, wenn wir wirklich selbstbestimmt und qualitätsbewusst leben wollen, dann müssen wir die Reichen, die Banken und die großen privaten Versicherer bändigen, dann müssen wir sie zwingen, sich demokratisch in eine demokratische, soziale und solidarische Gesellschaft einzufügen. Die derzeitige Politik und die Justiz ist zu schwach, diesen
Zwang zu vollstrecken... es wird das Volks sein, dass sich auf sich selbst und auf seine Kraft besinnen wird.

Wer Menschen schützen, wer die Umwelt und Mitwelt pflegen, wer Klimaschutz betreiben, Kriege verhindern und Frieden bewahren will, der muss zuallererst den Neoliberalismus vernichten.

Als Nächstes gilt, alle Pflegeeinrichtungen, Heime, Anstalten sowie Kitas und Kinderkrippen zurück zu bauen. Kinder und Alte gehören in die Gesellschaft. Der alte Beruf der Gemeindeschwester bzw. des Gemeindepflegers ist wieder zu beleben und zu hohen Ehren zu bringen.

http://www.bund-der-pflegeversicherten.de/