Washingtons einzige Moral ist die Doppelmoral
von Robert Parry (USA)
Wenn ich mich mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und ihren untertänigen Massenmedien beschäftige, habe ich manchmal den Eindruck, dass es dort überhaupt keine Moral gäbe, wäre da nicht die Doppelmoral. Von Präsident Barack Obama bis zu den Herausgebern von Washington Post und New York Times ist offenkundig, dass, was für den einen recht ist, für den anderen nicht billig ist.
Eine Wahl in einem umkämpften Land ist gültig und sogar beeindruckend, wenn dabei herauskommt, was das offizielle Washington will, etwa wie im vergangenen Monat in der Ukraine; sonst ist sie ein Schwindel und unrechtmäßig, wie in Syrien in diesem Monat.
In gleicher Weise haben Völker ein unabdingbares Recht auf Selbstbestimmung – in Kosovo oder Südsudan, aber nicht auf der Krim oder in der Donbass-Region der Ukraine. Diese Volksabstimmungen über die Trennung von der Ukraine müssen „manipuliert“ gewesen sein, auch wenn es nicht den leisesten Beweis dafür gibt. Alles wird gesehen durch das Auge des Betrachters, und die Betrachter in Washington sind zutiefst parteiisch.
Geht es um militärische Interventionen, machen Regierungsvertreter der Vereinigten Staaten von Amerika wie die Botschafterin bei den Vereinten Nationen Samantha Power eine über die nationale Souveränität hinausgehende „Verantwortung zum Schutz“ geltend, wenn Zivilisten in Libyen oder Syrien bedroht sind, nicht aber, wenn Zivilisten in Gaza, Odessa, Mariupol oder Donetsk massakriert werden. Werden diese Massaker von Alliierten der Vereinigten Staaten von Amerika durchgeführt, werden die Alliierten ob ihrer „Zurückhaltung“ gelobt.
Die Scheinheiligkeit setzt sich fort bei der Anwendung des Internationalen Rechts. Wenn einige Anführer in Afrika Dinge betreiben, die den Tod von Zivilisten zur Folge haben, dann müssen sie vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt und nach Den Haag gezerrt werden zwecks Strafverfolgung durch Juristen, die eine empörte Welt repräsentieren.
Es ist jedoch undenkbar, dass George W. Bush, Dick Cheney, Tony Blair und andere „respektable“ Anführer zur Verantwortung gezogen werden, die in den Irak einmarschiert sind und im vergangenen Jahrzehnt hunderttausende Tote auf dem Gewissen haben.
Die Vereinigten Staaten von Amerika präsentieren sich selbst als den großen Wächter der Demokratie und verfassungsmäßigen Ordnung, außer wenn diese demokratischen Regungen mit den Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika nicht zusammenpassen. Dann werden die Amerikaner behandelt entsprechend der kognitiven Dissonanz beim Sturz demokratisch gewählter Regierungen im Namen der „Demokratie“.
Der Fall Ukraine
Als der gewählte Präsident der Ukraine Viktor Janukowitsch Forderungen des Internationalen Währungsfonds nach einem Sparprogramm zurückwies, das Hand in Hand ging mit einem geplanten Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union, beschlossen höhere Regierungsvertreter der Vereinigten Staaten von Amerika, dass Janukowitsch gehen müsse und spornten Demonstrationen an, letztlich angeführt von Neonazi-Milizen, die Janukowitsch am 22. Februar gewaltsam stürzten.
Die für „öffentliche Diplomatie“ zuständigen Vertreter des Außenministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika spannen dann eine Geschichte, die die Putschisten als die Guten hinstellte und diejenigen, die versuchten, die gewählte Regierung zu verteidigen, als die Bösen. Wann immer Leute die unbequeme Wahrheit über die entscheidende Rolle von Neonazis bei der Bereitstellung des starken Arms für den Staatsstreich verlauten ließen, wurden sie beschuldigt, „russische Propaganda“ zu betreiben.
Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen, dann ist das gut, schlecht ist es, wenn ein Gegner der Vereinigten Staaten von Amerika dasselbe macht oder auch nur verdächtigt wird, das Gleiche zu tun.
Wenn amerikanische und französische Freiwillige nach Syrien gehen, um mit den von den Vereinigten Staaten von Amerika unterstützten Rebellen zu kämpfen, dann arbeiten diese Freiwilligen natürlich auf eigene Faust (wie der amerikanische Selbstmordbomber Abu Hurayra Al-Amriki). Etwas anderes ohne Beweis zu behaupten wäre eine „Verschwörungstheorie,“ ein Punkt, dem ich zustimmen würde.
Aber denken Sie daran, die Regeln sind dehnbar; während das amerikanische Pressekorps jeden verspotten würde, der annimmt, dass die amerikanischen und französischen Jihadisten in Syrien Verbindungen zu Washington und Paris haben müssen, trifft die gegenteilige Annahme auf jede in Misskredit stehende Regierung zu – in diesem Fall „weiß“ die Presse der Vereinigten Staaten von Amerika einfach, dass eine einheimische Widerstandsbewegung von einer ruchlosen ausländischen Hauptstadt aus gelenkt sein muss.
Zum Beispiel beschuldigt die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika Russland, irgendwie hinter den Unruhen in der östlichen Ukraine zu stecken, Janukowitschs politischer Basis, obwohl sogar die beispiellosen Geheimagenturen der Vereinigten Staaten von Amerika und amerikanische Journalisten vorort nicht imstande waren, irgendwelche Beweise für diese angebliche Steuerung aus Moskau zu entdecken.
Ja, diese Annahme ging sogar so weit, dass die New York Times auf einen Propagandaschmäh des Außenministeriums hineinfiel und die New York Times eine Geschichte brachte auf der Grundlage von Fotos von angeblichen geheimen russischen Militärteams, die „eindeutig“ in Russland waren, dann aber in der östlichen Ukraine auftauchten.
Zwei Tage später musste die New York Times ihren Sensationsbericht zurückziehen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ein angeblich in Russland aufgenommenes Schlüsselfoto in Wirklichkeit in der Ukraine aufgenommen worden war, was der Geschichte die Grundlage entzog.
Aber diese Blamage steigerte nur die Entschlossenheit der New York Times, zu beweisen, dass die ethnischen Russen in der Ostukraine tatsächlich „Lakaien“ Moskaus waren, keine eigenständig denkenden Menschen, die einfach zurückweisen, was sie als die Aufzwingung einer illegitimen Staatsgewalt aus Kiew betrachten.
Wenn also einige russische Nationalisten die Grenze überschritten, um ihren ethnischen Brüdern in der östlichen Ukraine zu helfen, dann wurde angenommen – wieder ohne jeden Beweis – dass der russische Präsident Vladimir Putin diese geschickt haben müsse.
New York Times-Reporterin Sabrina Tavernise fuhr nach Donetsk, konnte aber den ersehnten Beweis nicht finden. Die russischen Nationalisten sagten, sie hätten keine Verbindungen zu Moskau und seien einfach durch die Entschlossenheit motiviert, ihren russischen Brüder dabei zu helfen, sich vor den eskalierenden militärischen Angriffen aus der westlichen Ukraine zu schützen.
Ungeachtet dieser enttäuschenden Ergebnisse erzielte die Titelgeschichte der New York Times am 1. Juni den erwünschten Effekt durch die Schlagzeile: „Im Krieg in der Ukraine hinterlässt der Kreml keine Fingerabdrücke.“ Diese Formulierung geht davon aus, dass die russische Einmischung real ist, der Täter aber so vorsichtig war, alle Beweise zu beseitigen.
Der Artikel mündete in folgender Schlussfolgerung: „Mister Putin lenkt diese Ereignisse vielleicht nicht selbst, aber er ist sicher ihr hauptsächlicher Nutznießer.“ Aber stimmt wenigstens diese tendenziöse Formulierung? Putin hat seine Bereitschaft gezeigt, den Dialog mit dem neu gewählten Präsidenten der Ukraine Petro Porischenko zu führen, in der Hoffnung, die Krise an Russlands Grenze zu beruhigen.
Das Narrativ aufrecht erhalten
Das offizielle Narrativ Washingtons betreffend diese Krise muss jedoch immer aufrecht erhalten werden, egal wie groß der Mangel an Beweisen ist. Obwohl ein objektiver Beobachter sagen könnte, dass die Krise letztes Jahr provoziert wurde durch ein unbekümmertes Assoziierungsangebot der Europäischen Union – gefolgt vom drakonischen Sparprogramm des IWF, das von Janukowitsch zurückgewiesen wurde und von den Vereinigten Staaten von Amerika aufgestachelte gewalttätige Demonstrationen hervorrief (das alles, während Putin mit den Olympischen Winterspielen in Sotschi beschäftigt war) – ist es wesentlich für die Propagandalinie der Vereinigten Staaten von Amerika, die Geschichte auf „russische Aggression“ zu reduzieren.
Obama sollte und wird besser wissen - dass Putins Antwort eine Reaktion auf die Provokationen des Westens war, nicht ein Fall von russischer Provokation – aber Obama hat damit zu tun, Beschuldigungen der „Schwäche“ von Republikanern und diversen Neocons (=Neokonservativen) abzuwehren. Daher glaubt Obama offenbar, dass er harte Worte äußern und das falsche Narrativ wiederkäuen muss, wie er es in seiner Rede am 4. Juni in Polen tat, wo er sagte:
„Wie wir durch Russlands Aggression in der Ukraine erinnert worden sind, können unsere freien Nationen nicht selbstzufrieden sein bei der Verfolgung der Vision, die wir teilen – ein Europa, das ein Ganzes ist und frei und friedlich. Dafür müssen wir arbeiten. Wir müssen an der Seite derjenigen stehen, die die Freiheit suchen ...“
„Wir stehen zusammen, weil wir glauben, dass Menschen und Länder das Recht haben, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Und das schließt die Menschen in der Ukraine mit ein. Ausgeraubt von einem korrupten Regime forderten die Ukrainer eine Regierung, die ihnen dient. Geschlagen und blutend weigerten sie sich nachzugeben. Bedroht und schikaniert reihten sie sich zur Wahl; sie wählten einen neuen Präsidenten in einer freien Wahl – denn die Legitimation eines Anführers kann nur aus der Zustimmung der Menschen kommen ...“
„Wir stehen zusammen, weil wir glauben, dass jedes Land die Verantwortung dafür trägt, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Die Tage des Imperiums und der Einflusssphären sind vorbei. Größeren Ländern darf nicht gestattet werden, die kleineren zu drangsalieren oder ihnen ihren Willen aufzuzwingen mit vorgehaltener Waffe oder mit maskierten Männern, die Gebäude besetzen.“
„Und der Federstrich kann niemals den Diebstahl von Land eines Nachbarn rechtfertigen. Daher werden wir nicht die Okkupation der Krim durch Russland hinnehmen oder seine Verletzung der Souveränität der Ukraine. Unsere freien Länder werden vereint zusammenstehen, so dass weitere russische Provokationen nur weitere Isolation und Kosten für Russland bedeuten werden. Denn wie können wir zulassen, dass finstere Vorgangsweisen des 20. Jahrhunderts Richtlinien für dieses neue Jahrhundert sein können, nachdem wir so viel Blut und Vermögen investiert haben, um Europa zusammen zu bringen?“
Wie ich sagte – gäbe es da keine Doppelmoral, gäbe es dort überhaupt keine Moral.
Übersetzt aus dem amerikanischem von Klaus Madersbacher und veröffentlicht auf seiner Webseite http://www.antikrieg.com