Freiheit

von Gerd Heming (Bund der Pflegeversicherten)

„Wenn man das im Menschen schlummernde Tier durch Drohungen irgendwelcher Art – zeitlicher oder ewiger Strafen - bändigen könnte, dann wäre die höchste Verkörperung des Menschlichen der Dompteur im Zirkus mit seiner Peitsche, und nicht etwa der Prediger mit seinem Opfer. Aber die Macht, die den Menschen im Lauf der Jahrhunderte über das Tier erhoben und so weit gebracht hat, war nicht die Knute, sondern die Musik: die unwiderstehliche Gewalt der unbewaffneten Wahrheit und die Anziehungskraft ihres Beispiels.“ Boris L. Pasternak (1890-1960), im Roman "Doktor Schiwago"

Es geht um die unwiderstehliche Gewalt der unbewaffneten Wahrheit. Es geht um Urteile. Es geht um Urteilsfähigkeit und Urteilskraft. Es geht um unsere Freiheit!

Wir urteilen! Wir urteilen ohne Unterlass. Vom ersten Atemzug an urteilen wir. Jede Sekunde unseres Lebens urteilen wir. Wir würden keinen Tag unseres Lebens überleben, würde uns unser Gehirn nicht durch seine ständigen Beurteilungen vor Unheil und Gefahren schützen. Unser Gehirn erzwingt das. Denn unser Gehirn ist ganz grundlegend ein Überlebensorgan.

Unser Gehirn bringt die Bedingungen der Möglichkeit zum Urteilen mit auf die Welt. Es ist leicht zu verstehen, dass auf das frische, weitgehend ungeprägte, empfindsame und aufnahmebegierige Gehirn eines neugeborenen Lebens schon vor, während und nach der Geburt die ersten starken Spuren des irdischen Lebens eingraviert werden. Es ist leicht einzusehen, dass die ersten Eindrücke - die Erfahrung von Angst während der Geburt und die Erfahrung liebevoller Besänftigung durch eine das Leben bejahende Mutter nach der Geburt - sich besonders tief in das junge Gehirn hinein senken. Und nach diesen Erfahrung urteilt es: Das Leben hat angstvolle Seiten – aber es hat auch gute, tröstende, erfreuliche Seiten. Und diese Urteile bestimmen, ob wir später dem Leben gegenüber ein bejahendes und vertrauensvolles Verhalten zeigen, ob wir dem Leben gegenüber misstrauisch sind und ein verneinendes Verhalten oder gar gleichgültiges Verhalten zeigen

Es ist also von elementarer Bedeutung, dass einerseits dem jungen Gehirn von seinen ersten Bezugspersonen und von seiner Umwelt vertrauensvolle Impulse gesendet werden, oder ob es andererseits frühzeitig misstrauenerweckende Erfahrungen macht, je nach dem folglich, ob es eine Mitwelt der Gewalt oder des Streites oder eine Mitwelt umsorgender Zuneigung erfährt.

Die Wissenschaft ist sich heute einig darüber, dass das junge Gehirn schon sehr früh die Fähigkeit besitzt, Zusammenhänge zu erkennen und diese Zusammenhänge zu einer entsprechenden Lebensanschauung auszuwerten.

Der Schweizer Psychologe Jean Piaget kam auf Grund genauer Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern zu dem Schluss, dass das Kausalitätsbewusstsein, das heißt die Einsicht in denZusammenhang von Ursache und Wirkung, beim Kind schon in den ersten Monaten erwacht und dass es gegen Ende des zweiten Lebensjahres voll entwickelt ist.Im Lauf der ersten zwei Kindheitsjahre führen die Entfaltung sensomotorischer Intelligenz und dazu die entsprechenden Beurteilungen des Universums, zu einem Gleichgewichtszustand, der an rationales Denken grenzt. Es ist anzunehmen, dass dieser Gleichgewichtszustand, der sich gegen Ende des zweiten oder während des dritten Lebensjahres zeigt, das Ergebnis der Schlussfolgerungen ist, die das junge Gehirn des Kindes über sich selbst und über andere zieht. Aus dieser Schlussfolgerung zieht das Gehirn – und damit das Kind - seine Lebensanschauung. Es gewinnt eine Einstellung zu sich selbst und zum Leben, die es für immer beibehält.

Hier ist also die Nahtstelle, von der ab das weitere Lebensmuster entweder in gläubigem Vertrauen auf das Leben oder in ungläubigem Misstrauen unaufhaltsam verfeinert und verstärkt wird. Auf die elementare Bedeutung, die die erste Zeit des Lebens für das Gehirn hat, kann nicht ernsthaft und dringend genug hingewiesen werden. Alle späteren Urteile, die das heranreifende Kind und später der erwachsene Mensch fällt, geschehen auf Grundlage der Urteile, welche sich dem Menschen als „Erste“ eingeprägt haben. Diese Urteile sind die Vor-Urteile, die für das Leben unverzichtbar sind.

Aus einer positiven Beurteilung heraus wird der Mensch sich für das Leben entscheiden: Und so seine positive Beurteilung an der Wurzel der Existenz angelegt ist, wird er den Fortbestand und die Pflege von Leben in all seinen Formen und Arten schützen und verteidigen. So aber eine negative Beurteilung an den Wurzeln seiner Existenz nagt, wird er zu Verbitterung, Hartherzigkeit, Ichsucht, Misstrauen und Unfrieden neigen. Er ist derjenige, dem das lebendige Leben nichts sagt. Er ist derjenige, der nach Ersatz für das lebendige Leben wie ein Süchtiger auf der Jagd ist, der Reichtum braucht, der ohne die Krücken von äußeren Statussymbolen völlig verloren ist.

Während der ersten drei oder vier Jahre unseres Lebens sind wir der Urteilsfähigkeit unseres Gehirns ausgeliefert. Wehe, es muss sich in einer Familie oder einer Umwelt zurechtfinden, die in sich unfriedlich und zerstritten ist, wehe, unser Gehirn muss sich in einer Familie zurechtfinden, die eine gereifte und verantwortungsvolle Urteilsfähigkeit selbst nicht kennt. Wehe, wenn unser Gehirn aus seiner Umwelt Informationen erhält, die verlogen sind oder falsch.

Es sind diese Vor-Urteile, die unser Leben bestimmen. Wir könnten keinen Schritt sicher nach dem vorhergehenden machen, wenn wir nicht sicher wären, dass der vorherige Schritt sicher war. Es sind immer Vor-Urteile, auf die wir uns verlassen müssen. Wer keine Vorurteile besitzt ist lebensunfähig, er ist ein Fall für die Psychiatrie. Und wenn uns jemand begegnet, sei es in den Wissenschaften odergar bei Gericht, bei denen von „Vorurteilsfreiheit“ gefaselt wird, dann sollten wir die Ohren verschließen, die Flucht ergreifen und nach einem Psychiater rufen.

Bis wir urteilsfähige Menschen sind, durchlaufen wir vier Geburten: 1. die zellbiologische Geburt, 2. die physische Geburt, 3. die psychische Geburt und 4. bei, guter Entwicklung, die Geistige Geburt. Während es sich bei der zellbiologischen Geburt und bei der physischen Geburt um Ereignisse handelt, die vollkommen ohne unser Zutun geschehen, handelt es sich bei der dritten, bei der psychischen Geburt um einen Vorgang, durch den wir unsere Mitwelt wahrzunehmen beginnen und in der wir uns als Subjekt erkennen. Wir begreifen uns in einer Welt, die sich stetig differenziert, die sich erweitert und auf die, wie vorhin beschrieben, unsere näheren und ferneren Bezugspersonen einen unvergesslichen Einfluss haben.

Während der ersten Jahre unseres Lebens sind wir folglich den Informationen aus der Mitwelt weitgehend ausgeliefert. Später verlassen wir uns auf die Informationen und Belehrungen, die Vater und Mutter, die unsere Geschwister und Freunde, die unsere Lehrer, Ausbilder, Professoren et cetera et cetera in unvorstellbarer Fülle in uns hineinzulegen versuchen. Wir verlassen uns darauf, dass sie uns „urteilsfähig“ machen. Aber das ist ein gewaltiger Irrtum! Niemand kann uns urteilsfähig machen, außer wir selbst. Der Zeitpunkt, an dem wir uns selbst urteilsfähig machen sollen, ist das Datum unserer Volljährigkeit! Doch bis zu diesem Zeitpunkt wurden wir „fremdgesteuert“.

Selbstbestimmung haben wir bis dahin nicht gelernt. Wir waren Objekte der Mitwelt, nie Subjekte. Wir sind Opfer einer von struktureller Gewalt beherrschten „Bildungsmaschinerie“, für die unsere individuellen Bedürfnisse ohne Belang waren. So sind wir in eine Gesellschaft hinein gewachsen, für die Urteilsfähigkeit und Urteilskraft wenig anerkennenswert war.

Wir sind in der Tat eine Gesellschaft der Beleidigten, Geschundenen und Gedemütigten. Unsere Eltern, unsere Lehrer, unsere Lehrherren, unsere Professoren usw. haben uns stets als Objekte behandelt, nie als Subjekte. So steht am Ende der Kindheit, der Jugend und der gesamten Ausbildungszeiten der traumatisierte Mensch. Die Folge ist: Alles, was uns begegnet, wird "Niedergemacht". Geschwister machen einander nieder, unter Nachbarn geschieht es, unter Gruppen und Klassen. Alles wird "schlechtgeredet". Wer sich selbst beobachtet und ehrlich ist, weiß worum es geht. Was man - beispielsweise - über den "blöden" Nachbarn denkt, wird offenkundig. Und überhaupt ist die Welt um uns her feindlich, ablehnungswürdig und dämlich!

Paul Watzlawick hat dieses Phänomen eindrucksvoll beschrieben in seinem Buch "Anleitung zum Unglücklichsein". Es ist alles zum Nichtaushalten! Und obwohl dem so ist, hält sich der Mensch für „urteilsfähig“! Doch hier irrt der Mensch. Denn es fehlt die vierte Geburt, die Geistige Geburt!

Diese „geistige Geburt“ muss der Mensch sich selbst

So der Mensch Mensch heißen will muss er die geistige Geburt bei sich und durch sich selber durchführen. Das heißt, der Mensch muss sich geistig selber gebären. Er muss alles, was ihm begegnet auf seine letztgründige Bedeutung überprüfen, selbst das Gewohnte muss er reflektieren und hinterfragen. Dieses so verstandene Reflektieren ist eines der Zauberworte, die zu dieser Geburt führen und – dazu gehört selbstverständlich - die tief in sich gewollte Herausführung aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit".

Geistige Geburt – das ist Reflektieren im vorhin genannten Sinne! Reflektieren! Reflektieren! Diese Art zu Reflektieren ist die Handlung, die die Spreu vom Weizen trennt, die die gutartigen Vorurteile von den bösartigen Vorurteilen säubert. Reflektieren ist die Handlung, die die Eliten, die Medien und die Politik erzittern lässt. Denn von dieser göttlichen Handlung aus enthüllt sich deren falsches Spiel. Es sind nur wenige, die die geistige Geburt vor dem dreißigsten Lebensjahr wagen, und noch wenigere sind es, die sie vor dem vierzigsten Geburtstag abgeschlossen haben.

Nur die Geistige Geburt macht uns zu freien Menschen.

Wir haben im Verlauf der 240 Jahre seit der Aufklärung die Macht des Klerus und des Adels, die Macht der Fürsten, Könige und Kaiser überwunden und besiegt. Wir haben die Leibeigenschaft abgeschüttelt und die selbstverschuldete Unmündigkeit - und wir haben uns im Zuge der Aufklärung zu freien Menschen empor geschwungen. Deshalb werden wir es nicht zu lassen, wenn uns heute die Macht des Geldes erneut zu Untertanen machen will. Wir bekennen uns zu den allgemeinen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Wir sind freie Menschen in einem Land der Freien. Wir folgen dem Wahlspruch der Aufklärung, den unsere Väter uns als größtes Erbe hinterlassen haben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist der Wahlspruch der Aufklärung.“ Immanuel Kant (1724-1804)

Doch diese Aufklärung wird nicht gewünscht.

„Die neuen Herrscher der Welt“, sagt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, „ - die Beutejäger des globalisierten Finanzkapitals, die Barone der transkontinentalen Konzerne, die Börsenspekulanten - häufen ungeheure Vermögen an. Mit ihrem Tun zerstören sie den Staat, verwüsten die Natur und entscheiden jeden Tag darüber, wer sterben muss und wer überleben darf. Willfährige, effiziente Verbündete stehen ihnen zu Diensten, allen voran die Funktionäre der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Weltwährungsfonds.“ - Der Geist des Bösen weht von vielen Hügeln her. Ihr Ziel besteht darin, es Banken zu ermöglichen, Kapital aus der ganzen Welt anzulocken, und sich Zugang zu billigem Kapital zu verschaffen.

Es ist ein Projekt aus den siebziger Jahren. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds starteten dieses Projekt. Wir nennen es heute Neo-Liberalismus. Es beruht auf der Basis von vier Schlüsselelementen:

  1. Der Deregulierung der Finanzmärkte. Dieses Element startete mit der Deregulierung der Finanzmärkte auf der ganzen Welt. Kapital sollte sich frei von einem Land zum anderen bewegen können.
  2. Der Liberalisierung der Handelsströme. Es geht darum, Handelsbarrieren abzuschaffen, die sehr sorgfältig von den Entwicklungsländern zum Schutz ihrer Industrien in vielen Jahren aufgebaut worden sind.
  3. Der völligen Abschaffung des Staates, um die Interventionsmöglichkeiten des Staates zu reduzieren. Eine Maßnahme, die uns aus den Reden vieler FDP-Politiker nicht unbekannt ist. Anders gesagt werden die Steuereinnahmen des Staates so reduziert, dass die Staaten nichts mehr tun können, um ihre Bürger zu schützen. Neunzig Prozent der Bevölkerung Deutschlands sind davon betroffen.
  4. Die Privatisierung der Industrie. Dabei wird mehr oder weniger sicher gestellt, dass bei dieser Privatisierung die Industrien unter ihrem tatsächlichen Wert an fremde Kapitalgeber verkauft werden.

Es geht den „Masters of the Universe“ um totale Kapitaldeckung. Die solidarischen Absicherungen des Bürgers, die Krankenversicherung, die Pflegeversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die Altersabsicherung, sollen aufgelöst und vom Umlageverfahren in Kapitaldeckungsverfahren umgewandelt werden. Erst dann haben sie ihr Ziel, die Menschen der Welt zu ihrer Verfügungsmasse zu machen, endgültig erreicht. Chile ist dafür derzeit ein flammendes Beispiel.

Die “Masters of the Universe” bekämpfen ohne Gnade den freien, den mündigen Menschen und sie finden in den Politikern, in den Wissenschaften in den Medien und in den Institutionen willenlose und untertänige Handlanger. Sie alle fürchten den freien, selbstbewussten und kritischen Menschen mehr als der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Sie lieben die Dummheit. Deswegen verhindern sie mit allen Mitteln die Geistige Geburt des Menschen.

Wenn wir unsere Würde erhalten wollen, wenn wir wirklich selbstbestimmt und qualitätvoll leben wollen, dann müssen wir die Reichen, die Banken und die großen privaten Versicherer bändigen, dann müssen wir sie zwingen, sich demokratisch in eine demokratische, soziale und solidarische Gesellschaft einzufügen, dann müssen wir erkennen, was sie wirklich sind: Erbärmlich und Dämlich!.

Die derzeitige Politik und die Justiz sind geistig zu schwach, diese Wahrheit zu erkennen... es muss das Volks sein, es müssen die Alten sein, die sich auf sich selbst und auf ihre Kraft besinnen. Die Macht, die den Menschen im Lauf der Jahrhunderte über das Tier erhoben und so weit gebracht hat, war nicht die Knute, sondern die Musik: die unwiderstehliche Gewalt der unbewaffneten Wahrheit und die Anziehungskraft ihres Beispiels.

Um es mit Helmut Schmidt zu sagen: „Politik ist Handeln zu sittlichen Zwecken!“

Quelle: Bund der Pflegeversicherten
Gerd Heming (Vors.) Dezember 2019