Urteilsfähigkeit

von Gerd Heming (Bund der Pflegeversicherten)

Wir urteilen! Wir urteilen ohne Unterlass. Vom ersten Atemzug an urteilen wir. Jede Sekunde unseres Lebens urteilen wir. Wir würden keinen Tag unseres Lebens überleben, würde uns unser Gehirn nicht durch seine ständigen Beurteilungen schützen. Unser Gehirn erzwingt das. Denn unser Gehirn ist ganz grundlegend ein Überlebensorgan.

Unser Gehirn bringt die Bedingungen der Möglichkeit zum Urteilen mit auf die Welt. Es ist leicht zu verstehen, dass auf das frische, weitgehend ungeprägte, empfindsame und aufnahmebegierige Gehirn eines neugeborenen Lebens schon vor, während und nach der Geburt die ersten starken Spuren des irdischen Lebens eingraviert werden. Es ist leicht einzusehen, dass die ersten Eindrücke, die Erfahrung von Angst während der Geburt und die Erfahrung liebevoller Besänftigung durch eine das Leben bejahende Mutter nach der Geburt, sich besonders tief in das junge Gehirn hineinsenken. Dementsprechend urteilt es: Das Leben hat angstvolle Seiten – aber es hat auch gute, tröstende, erfreuliche Seiten. Und diese Urteile bestimmen, ob wir später dem Leben gegenüber ein bejahendes Verhalten zeigen, ob wir später dem Leben gegenüber ein verneinendes Verhalten oder gar ein gleichgültiges Verhalten zeigen.

Es ist also von elementarer Bedeutung, dass einerseits dem jungen Gehirn von seinen ersten Bezugspersonen und von seiner Umwelt vertrauensvolle Impulse gesendet werden, oder ob es andererseits frühzeitig misstrauenerweckende Erfahrungen macht. Die Wissenschaft ist sich heute einig darüber, dass das junge Gehirn schon sehr früh die Fähigkeit besitzt, Zusammenhänge zu erkennen und diese Zusammenhänge zu einer entsprechenden Lebensanschauung auszuwerten.

Der Schweizer Psychologe Jean Piaget kam auf Grund genauer Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern zu dem Schluss, dass das Kausalitätsbewusstsein, das heißt die Einsicht in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, beim Kind schon in den ersten Monaten erwacht und dass es gegen Ende des zweiten Lebensjahres voll entwickelt ist.

Im Lauf der ersten zwei Kindheitsjahre führen die Entfaltung sensomotorischer Intelligenz und dazu die entsprechenden Beurteilungen des Universums, zu einem Gleichgewichtszustand, der an rationales Denken grenzt. Es ist anzunehmen, dass dieser Gleichgewichtszustand, der sich gegen Ende des zweiten oder während des dritten Lebensjahres zeigt, das Ergebnis der Schlussfolgerungen ist, die das junge Gehirn des Kindes über sich selbst und über andere zieht. Aus dieser Schlussfolgerung zieht das Gehirn – und damit das Kind -  seine Lebensanschauung. Es gewinnt eine Einstellung  zu sich selbst und dem Leben, die es für immer beibehält.

Hier ist also die Nahtstelle, von der ab das weitere Lebensmuster entweder in gläubigem Vertrauen auf das Leben oder in ungläubigem Misstrauen unaufhaltsam verfeinert und verstärkt wird. Auf die elementare Bedeutung, die die erste Zeit des Lebens für das Gehirn hat, kann nicht ernsthaft und dringend genug hingewiesen werden. Alle späteren Urteile, die das heranreifende Kind und später der erwachsene Mensch fällt, geschehen auf Grundlage der Urteile, welche sich dem Menschen als „Erste“ eingeprägt haben. Diese Urteile sind die Vor-Urteile, die für das Leben unverzichtbar sind. Aus einer positiven Beurteilung heraus wird der Mensch sich für das Leben entscheiden: Und so seine positive Beurteilung an der Wurzel der Existenz angelegt ist, wird er den Fortbestand und die Pflege von Leben in all seinen Formen und Arten schützen und verteidigen. So aber eine negative Beurteilung an den Wurzeln seiner Existenz nagt, wird er zu Verbitterung, Hartherzigkeit, Ichsucht, Misstrauen und Unfrieden neigen. Er ist derjenige, dem das lebendige Leben nichts sagt. Er ist derjenige, der nach Ersatz für das lebendige Leben wie ein Süchtiger auf der Jagd ist, der Reichtum braucht, der ohne die Krücken von äußeren Statussymbolen völlig verloren ist.

Während der ersten drei oder vier Jahre unseres Lebens sind wir der Urteilsfähigkeit unseres Gehirns ausgeliefert. Wehe, es muss sich in einer Familie oder einer Umwelt zurechtfinden, die in sich unfriedlich und zerstritten ist, wehe, unser Gehirn muss sich in einer Familie zurechtfinden, die eine gereifte und verantwortungsvolle Urteilsfähigkeit selbst nicht kennt. Wehe, wenn unser Gehirn aus seiner Umwelt Informationen erhält, die verlogen sind oder falsch.

Es sind diese Vor-Urteile, die unser Leben bestimmen. Wir könnten keinen Schritt sicher nach dem vorhergehenden machen, wenn wir nicht sicher wären, dass der vorherige Schritt sicher war. Es sind immer Vor-Urteile, auf die wir uns verlassen müssen. Wer keine Vorurteile besitzt ist lebensunfähig, er ist ein Fall für die Psychiatrie. Und wenn uns jemand begegnet, sei es in den Wissenschaften oder gar bei Gericht, bei denen von  „Vorurteilsfreiheit“ gefaselt wird, dann verschließt die Ohren, ergreift die Flucht und ruft den Psychiater.

Bis wir urteilsfähige Menschen sind, durchlaufen wir vier Geburten. Während es sich bei der zellbiologischen Geburt und bei der physischen Geburt um Ereignisse handelt, die vollkommen ohne unser Zutun geschehen, handelt es sich bei der dritten, bei der psychischen Geburt um einen Vorgang, durch den wir unsere Mitwelt wahrzunehmen geginnen und in der wir uns als Subjekt erkennen. Wir begreifen uns in einer Welt, die sich stetig differenziert, die sich erweitert und auf die, wie vorhin beschrieben, unsere nahen und ferneren Bezugspersonen.

Während der ersten Jahre unseres Lebens sind wir folglich den Informationen aus der Mitwelt weitgehend ausgeliefert. Später verlassen wir uns auf die Informationen und Belehrungen, die Vater und Mutter, die unsere Lehrer, Ausbilder, Professoren et cetera et cetera in unvorstellbarer Fülle in uns hineinzulegen versuchen. Wir verlassen uns darauf, dass sie uns „urteilsfähig“ machen. Aber das ist ein gewaltiger Irrtum! Niemand kann uns urteilsfähig machen, außer wir selbst. Der Zeitpunkt, an dem wir uns selbst urteilsfähig machen sollen, ist das Datum unserer Volljährigkeit! Doch bis zu diesem Zeitpunkt wurden wir „fremdgesteuert“. Selbstbestimmung haben wir bis dahin nicht gelernt. Wir waren Objekte der Mitwelt, nie Subjekte. Wir sind Opfer einer von struktureller Gewalt beherrschten „Bildungsmaschinerie“, für die unsere individuellen Bedürfnisse ohne Belang waren. So sind wir in die Gesellschaft hinein gewachsen.

Wir sind in der Tat eine Gesellschaft der Beleidigten, Geschundenen und Gedemütigten. Unsere Eltern, unsere Lehrer, unsere Lehrherren, unsere Professoren usw. haben uns stets als Objekte behandelt, nie als Subjekte. So steht am Ende der Kindheit, der Jugend und der gesamten Ausbildungszeiten der traumatisierte Mensch. Die Folge ist: Alles, was uns begegnet,  wird "Niedergemacht".  Geschwister machen einander nieder, unter Nachbarn geschieht es, unter Gruppen und Klassen. Alles wird "schlechtgeredet". Wer sich selbst beobachtet und ehrlich ist, weiß worum es geht.  Was man - beispielsweise - über den "blöden" Nachbarn denkt, wird offenkundig. Und überhaupt ist die Welt um uns her feindlich, ablehnungswürdig und dämlich! Paul Watzlawick hat dieses Phänomen eindrucksvoll beschrieben in seinem Buch "Anleitung zum Unglücklichsein". Es ist alles zum Nichtaushalten! Und obwohl dem so ist, hält sich der Mensch für „urteilsfähig“! Doch hier irrt der Mensch. Denn es fehlt die vierte Geburt, die Geistige Geburt!

Diese „geistige Geburt“ muss der Mensch sich selbst antun. So der Mensch Mensch heißen will muss er die geistige Geburt bei sich und durch sich selber durchführen. Das heißt, der Mensch muss sich geistig selber gebären. Reflektion ist eines der Zauberworte, die zu dieser Geburt führen und - selbstverständlich - die tief in sich gewollte Herausführung aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit".

Geistige Geburt – das ist Reflektion! Reflektion! Reflektion! Reflektion ist die Handlung, die die Spreu vom Weizen trennt, die die gutartigen Vorurteile von den bösartigen Vorurteilen säubert. Reflektion ist die Handlung, die die Eliten, die Medien und die Politik erzittern lässt. Denn von dieser göttlichen Handlung aus enthüllt sich ihr falsches Spiel. Es sind nur wenige, die die geistige Geburt vor dem dreißigsten Lebensjahr wagen, und noch wenigere sind es, die sie vor dem vierzigsten Geburtstag abgeschlossen haben.

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