Emil Flusser - Krieg als Krankheit - Buch mit 153 Seiten (1932)

Bearbeitet und auf neue Rechtschreibung umgestellt von Dieter Riebe

Geleitwort

Das Buch wird niemand ohne tiefe Anteilnahme lesen können. Es ist schon an sich interessant, die bei dem Kriege und seiner Vorbereitung mitspielenden psychischen Faktoren pathologischen Charakters in ihrem lebendigen Zusammenwirken dargestellt zu sehen. Dies muss sogar einem Leser reizvoll sein, der zu dem Problem des Krieges seine ablehnende oder wenigstens seine prinzipiell ablehnende Haltung einnimmt. Das Interesse muss umso stärker sein, wenn der Autor durch seine ärztliche Erfahrung und seine außergewöhnlich ausgedehnte und vertiefte Kenntnis der verschiedensten Verhältnisse und der menschlichen Natur überhaupt hervorragt, wie es beim Autor dieses Buches in hohem Maße zutrifft. Möge das Buch manchem Zeitgenossen die Augen öffnen zum Heile unserer so schwer bedrohten Kulturgemeinschaft!

von Albert Einstein (1879-1955)

Inhaltsverzeichnis                                                                     Seite

Krieg und Sittengesetz.
Der Krieg in der philosophischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Medizinische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Natürliche und Menschliche Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . 9

Die treibenden Kräfte.
Krankheitseinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Endogene und exogene Krankheitsursachen . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Die Wir-sucht/ Der Herdentrieb/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .24
Der Kollektivaffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Sensationslust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Die Staatskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Katechismus und Biblische Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Dogmatik und Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Heilige und Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .63
Inquisition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Priester und Pomp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .71
Geistige, seelische und materielle Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Macht und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83

Krankhafte Typen im Kriege.
Die Ktinomanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101
Die Hörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Das Hinterland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .110
Prophylaxe des Krieges.
Die Kompetenz des Arztes und ihre unmittelbaren Folgen . . . . . 114
Lebensgemeinschaft und Kollektivum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Bekämpfung der Neurose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129


Lesebrobe - Kapitel - Medizinische Ethik


Ich betrachte den Krieg als Folge einer krankhaft veränderten Urteils- und Willenskraft des Menschen und will in der vorliegenden Schrift diese Betrachtungsweise rechtfertigen.

Als Krankheit ist der Krieg jenseits von Gut und Böse, kann also ebenso wenig geächtet werden wie etwa Tuberkulose, kann aber auch nie heilig gesprochen werden. Eine Krankheit ist eine Naturerscheinung, ist biologisches geschehen, ein Lebensvorgang. Gewiss kann ich auch Lebensvorgänge daraufhin prüfen, ob sie sittlich sind oder nicht. Aber als Arzt muss ich als das Wertvollste und Ehrwürdigste der Erde das Menschenleben und die menschliche Lebensgemeinschaft ansehen. Eine Handlung, welche das Leben und die menschliche Lebensgemeinschaft fördert, ist sittlich, die welche sie schädigt, ist unsittlich. Das Leben fördernd bedeutet dasselbe wie gesund, das Leben schädigend, soviel wie krankhaft.

Während also die philosophische Ethik, insbesondere Kant, zwischen gutem und bösen Willen unterscheidet, kennt die medizinische Ethik nur eine gesunde und eine krankhaft veränderte Willenskraft.

Der gute oder schlechte Wille, der in der Ethik Kants dafür maßgebend ist, ob eine Tat sittlich ist oder nicht, ist in der medizinischen Ethik nebensächlich und es kommt ihr hauptsächlich auf die Urteilsfähigkeit des Handelnden an, also ob aus seiner Handlungsweise ersichtlich ist, dass der Handelnde Leben fördernd und Leben schädigend unterscheiden kann. Da der Krieg immer mit seelischen Veränderungen einhergeht, die diese Urteilsfähigkeit aufheben, so führt er auch beim bestem willen des Einzelnen zu Handlungen, die Leben und Lebensgemeinschaft schädigen, kann also, wenn man ihn überhaupt ethisch werten will, nur als verwerflich betrachtet werden.

Die Begriffe Verwerflich, Unsittlich, Böse enthalten einen Tadel. Einem Tadel liegt auch immer eine Schuld zugrunde. An einem Naturgeschehen wie es eine Krankheit ist, hat aber niemand eine Schuld im moralischen Sinne.

Wenn wir also den Krieg als verwerflich bezeichnen, so ist es eine Konzession an eine ältere, naivere Betrachtungsweise, die jede menschliche Handlung auch ethisch werten will. In Wirklichkeit ist jedes Naturgeschehen jenseits von Gut und Böse, es ist entweder Leben fördernd oder Leben störend, gesund oder krankhaft.

Die Fähigkeit Gut und Böse zu unterscheiden wird von philosophischen und theologischen Ethikern dem Menschen schlichtweg zugeschrieben. Der Arzt aber kann diese Fähigkeit nur dem von äußeren und inneren Einflüssen dauernd freien Menschen zusprechen, den es jedoch in Wirklichkeit nicht gibt.

Der Ethiker, der den kategorischen Imperativ ausspricht, wendet sich a priori nur an Menschen im Vollbesitze ihrer klaren Besonnenheit. Solche Menschen unterscheiden aber nicht nur Gut und Böse, sondern ihnen ist auch die Fähigkeit gegeben, Gesund und Krankhaft unmittelbar zu erkennen. Einem Menschen im Besitze seiner Besonnenheit leuchten Kriegshandlungen als krankhaft unmittelbar ein. Der bloße Anblick einer vorgehenden Sturmtruppe, einer Schar halbwüchsiger Burschen und alter Familienväter, die alkoholisiert durchs Sperrfeuer gejagt werden, das einmalige Beisammensein mit Menschen in einem von Gasgranaten geschossenen Unterstand, muss zur unmittelbaren und unbeirrbaren Erkenntnis führen, dass da das Reich des Wahnsinns herrscht.

Dieses Reich dehnt sich im Kriege aber auch aufs Hinterland aus und die der Wirklichkeit belauschten Szenen in Karl Kraus' „Letzten Tagen der Menschheit“ behandeln durchwegs Typen, die heute jeder als Krankheit erkennt.

Der Krieg ist also schon deshalb eine Krankheit, weil Kriegshandlungen einem gesunden Menschen unmittelbar als krankhaft einleuchten. Es gibt kaum einen Philosophen, der sich nicht mit der Frage Krieg und Frieden einmal befasst hätte. Ob sie nun zur Bejahung oder zur Ablehnung des Krieges gelangten, Philosophen kommt es nicht zu, über pathologische Erscheinungen zu meditieren. Immerhin wäre es aber Pflicht der zeitgenössischen Philosophie, den Widerspruch aufzuklären, der darin liegt, dass die Staaten der Erde zwar mit der Unterschrift unter den Kelloggpakt den Krieg geächtet haben, dabei aber ihre Bürger mit Gewalt zum Waffendienste zwingen.

Mit Recht stellt Albert Einstein die Forderung auf, dass alle Staaten, die den Kelloggpakt gezeichnet haben, auch die allgemeine Wehrpflicht abschaffen und sich verpflichten, weder direkt noch indirekt oder moralisch ihre Bürger zum Waffendienste zu zwingen.

Die Ächtung des Krieges mit gleichzeitigem Zwang zum Kriegsdienste widerspricht nun allerdings der Vernunft und die Unvernunft, das Irrationale ist es, worauf die militärische Philosophie die Bejahung des Krieges allein stützen kann.

"Nie weder Erdbeben" rufen die Militaristen jenen zu, deren Losung "Nie wieder Krieg" ist. (Mit diesem Gesinnungsmilitarismus setzt sich Max Scheler, der durchaus kein engagierter Pazifist ist, sondern sich zum sog. Instrumentalmilitarismus bekennt, gebührend auseinander.) Gewiss ist es nicht zu leugnen, dass das große Geschehen im Makro- und Mikrokosmos Gesetzen folgt, die dem vernunftmäßigen, kausalen Denken des Menschen unzugänglich, also streng genommen irrational sind.

Zeit und Raum, Ursprung des Lebens und Ursprung der Bewegung, die bekannten Welträtsel, kann menschliche Vernunft nicht lösen noch deuten und fassen. Den Schlag des Herzens, das Wachsen der Frucht von Samen oder Ei bis zum vollkommenen Lebewesen, den Flug des Zugvogels von Afrika zu seinem Nest in einer versteckten Baumkrone unseres heimatlichen Waldes ohne Karte und Kompass können wir bewundern aber nicht verstehen. Nicht dem Verstand folgten die Völkerscharen, die vor eineinhalb und zwei Jahrtausenden aus dem Innern Asiens gegen Westen zogen und der Verstand schweigt auch, wenn in stiller verschwiegener Stunde der Hans zu Lieses Kammer schleicht.

Auch das Erdbeben ist irrational und auch Krankheit galt den Menschen, solange sie sie nicht bekämpfen konnten, gleich einem Erdbeben immer als Ausbruch elementarer, von höheren Mächten auf den Menschen losgelassener vernichtender Kraft. Als dann die fortschreitende Naturwissenschaft das Wesen der Krankheiten erkannte und die Mittel fand, um Seuchen auszurotten, verlor die Krankheit das Tabu, den Schleier des Übernatürlichen und Unheimlichen, von der Gottheit verhängten. Einmal zur Erkenntnis gelangt, dass der Krieg eine Krankheit ist, müssen wir als Ärzte unserer Ethik folgen und sagen: Nie wieder Krieg!

Sicher ist das Erdbeben irrational und der Krieg irrational. Der Begriff irrational umfasst aber zwei verschiedene Inhalte, die immer durcheinander geworfen wurden, wenn Denker auf spekulativem Wege zur Bejahung des Krieges gelangten: Das Übervernünftige und das Unvernünftige. Die Bewegung der Erde, der Schlag des Herzens sind irrational, durch seine menschliche Vernunft restlos zu klären oder gar durch seinen Willen beeinflussbar, sind also super rational, über vernünftig. Der Krieg aber ist irrational im Sinne von Unvernünftig. Kriegshandlungen leuchten als seelisch krankhafte Phänomene, also als unvernünftig, jedem kritischen Beobachter unmittelbar ein. Der Krieg ist durchaus nichts Übermenschliches, sondern nach Max Brod ein unter menschliches Phänomen.

Für den Arzt aber ergibt sich aus der Erkenntnis, dass der Krieg etwas krankhaftes ist, eine ganz bestimmte Notwendigkeit: gegen ihn wie gegen jede Krankheit vorzugehen, seine Ätiologie, Pathologie, Therapie und Prophylaxe zu erforschen, um die Menschheit vor dieser Seuche zu bewahren.

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