Das Mittel zum wirklichen Frieden.
Keine Regierung gibt jetzt zu, dass sie das Heer unterhalte, um  gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Verteidigung  soll es dienen. Jene Moral, welche die Notwehr billigt, wird als ihre  Fürsprecherin angerufen. Das heißt aber: sich die Moralität und dem  Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und  eroberungslustig gedacht werden muss, wenn unser Staat notwendig an die  Mittel der Notwehr denken soll; überdies erklärt man ihn, der genau  ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das  Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält, durch unsere  Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und  listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes  Opfer ohne allen Kampf überfallen möchte. So stehen nun alle  Staaten jetzt gegeneinander: sie setzen die schlechte Gesinnung des  Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist  aber eine Inhumanität, — so schlimm und schlimmer als der Krieg:  ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen,  weil sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralität unter- schiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und Tat zu provozieren scheint.  Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Notwehr muss man ebenso  gründlich abschwören als den Eroberungsgelüsten. Und es kommt vielleicht  ein großer Tag, an welcher ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die  höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz  ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu  bringen, freiwillig ausruft: "wir zerbrechen das Schwert" — und sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. 
Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus, — das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden  der Gesinnung ruhen muss: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie  er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist,  der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Hass, halb aus Furcht  die Waffen nicht ablegt. Lieber zugrunde gehen als hassen und fürchten,  und zweimal lieber zugrunde gehen als sich hassen und fürchten machen,  — dies muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen  Gesellschaft werden! — Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie  bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst  würden sie wissen, dass sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine  "allmähliche Herabminderung der Militärlast" arbeiten. Vielmehr: erst  wenn diese Art Not am größten ist, wird auch die Art Gott am nächsten  sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit  einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber  kommt, ihr wisst es ja, aus der Höhe.
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900), Menschliches, Allzumenschliches II, Ein Buch für freie Geister, 1879
											