Kurze Aufklärungen über Wesen und Ziel des Pazifismus (1914)

von Alfred Hermann Fried

Die Einwände gegen die Friedensbewegung beruhen zumeist auf einer ganz falschen Auffassung des Problems.
In der Regel handelt es sich gar nicht um jene Ideen, die man breitspurig bekämpft, widerlegt, verlacht.
In kurzen Sätzen soll hier der Grundgedanke skizziert werden, um damit das Unbegründete der landläufigen Einwände dar zutun.
Nicht, dass dadurch schon jeder Gegner zum Pazifismus bekehrt werden soll, wohl aber, um den Streit darüber von der Luft auf festen Boden zu übertragen.

1. »Ewiger Friede«

Man muss unterscheiden zwischen »kein Krieg« und »Friede «. Der Zustand, der heute in normaler Zeit zwischen den Staaten besteht, ist nicht der des Friedens, wie ihn der Pazifismus versteht, sondern nur der des Nichtkrieges. Auch der »Friede «, der nach einem Kriege geschlossen wird, bildet nicht das Ziel der Friedensbewegung. Jene Friedensschlüsse beendigen nur einen Krieg: sie begründen nicht den Frieden. (Ein Gleichnis als Beispiel: Es ist einer in der Zeit der Nüchternheit zwischen zwei Räuschen noch kein Abstinent.)


Wer die Unterscheidung zwischen »Friede« und »keinen Krieg« unterlässt, erfasst den Ideengang des Pazifismus nicht; er kommt zu Schlüssen, die das Problem gar nicht berühren.

Nur der »Friede« genannte Zustand des Nichtkrieges kann durch stets sich vermehrende Rüstungen verlängert werden. (Daher: »Si vis pacem, para bellum«.!) Dauernd kann dieser Zustand nicht erhalten werden. (Daher: »Der ewige Friede ist ein Traum«.) Diese Schlüsse sind an sich richtig; aber ihre Voraussetzungen sind falsch.

Der Friede, wie ihn der Pazifismus versteht, bedeutet den Zustand eines organisierten Nebeneinanderlebens der Staaten. An die Stelle der heute in den zwischenstaatlichen Beziehungen noch vorherrschenden Anarchie tritt allmählich die zwischenstaatliche Organisation.

Also nicht das angebliche Streben, unter unveränderter Belassung der zwischen den Staaten noch vorherrschenden Anarchie dauernd den kriegerischen Zusammenstoß zu vermeiden, den unter dieser Voraussetzung tatsächlich unmöglichen »ewigen Frieden« zu bereiten, der in Wirklichkeit gar kein Frieden wäre, bildet das Grundproblem des Pazifismus. Dieses liegt in der Überwindung jenes Zustandes der Anarchie durch Entwicklung einer zwischenstaatlichen Organisation, aus der sich neben anderen Vorteilen auch die Möglichkeit einer gewaltlosen Schlichtung aller zwischenstaatlichen Konflikte von selbst ergeben wird.

 

Kurz: Nicht Beseitigung der Symptome, sondern Umwandlung der Ursache.

 

2. Die zwischenstaatliche Organisation

a) Definition

Das heißt nicht Weltstaat, nicht Vereinigte Staaten, nicht Föderation; bedeutet nicht das Aufgehen der Nationen in einen Menschheitsverband, nicht Aufhebung der Selbständigkeit der Staaten, nicht Unterwerfung unter eine Zentralgewalt.

Das heißt vielmehr freiwilliges Zusammenwirken selbständiger Staaten zur gemeinsamen Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen (Zweckverband), erhöhte Erfüllung ihrer Lebensbedingungen und erhöhte Sicherung ihres Bestandes mit geringstem Kräfteaufwand auf der Grundlage der Gegenseitigkeit. (Austausch eigener Macht gegen fremde pflichten.)

b) Wie ist sie zu erreichen?

Die zwischenstaatliche Organisation ist nicht willkürlich zu konstruieren; ihr Werden ist bedingt durch die natürlichen Gesetze; die die Entwicklung der Menschheit beherrschen. Die Technik ist die Bildnerin und Förderin der Vergesellschaftung. Sie führte den Menschen zu immer höheren Organisationen. Vom isolierten Höhlenbewohner bis zu den modernen Weltreichen und Staatenverbänden. Sie weist ihn auch darüber hinaus zur Weltorganisation.

Die zwischenstaatliche Organisation vollzieht sich seit langem. Die völlige Anarchie in den Beziehungen der Staaten besteht längst nicht mehr. Immer mehr und immer beschleunigter verliert sie an Boden. Die Staaten werden immer abhängiger voneinander. Die Wirtschaft hat sich zur Weltwirtschaft erweitert. Der Weltmarkt schuf das Weltkreditsystem, die Weltpreisbildung, die Weltkonjunktur, schuf über die Grenzen der Staaten wirkende Zusammenhänge der Wohlfahrt und des Elends. Zu zahlreichen Welt-Zweckverbänden haben sich die Staaten vereinigt, und eine bereits umfangreiche zwischenstaatliche Verwaltung ist in Wirksamkeit. Weltverträge über gemeinsame wirtschaftliche, soziale, hygienische, verkehrspolitische, rechtliche, ethische und wissenschaftliche Interessen sind in großer Anzahl abgeschlossen worden und nehmen täglich zu. Weltkongresse der Regierungen zur Betreibung von Kulturangelegenheiten sind regelmäßige Erscheinungen geworden. Alle diese Erscheinungen zusammen gefaßt, bilden die Symptome und den Beweis für die in voller Entwicklung befindliche zwischenstaatliche Organisation, die schrittweise an die Stelle der bisherigen Anarchie tritt.!

Dieser Vorgang bildet das Problem des Pazifismus.

Der Pazifismus hat die zwischenstaatliche Organisation nicht erst zu schaffen. Er erkennt sie bloß und weist auf sie hin. Die von ihm erkannte Richtung der natürlichen Entwicklung will er den Menschen erkennbar machen, damit diese ihre Handlungen danach orientieren und so den Organisationsvorgang beschleunigen. (Katalytische Wirkung.)

c) Die Wirkung

Aus der veränderten Gestaltung des zwischenstaatlichen Lebens ergeben sich veränderte Folgen. In dem Grade, in dem die Anarchie zurücktritt und die Organisation Platz greift, wird die Gewalt aufhören, in den zwischenstaatlichen Beziehungen eine Rolle zu spielen. (Man sieht: Nicht der Krieg soll beseitigt werden, sondern seine Ursachen.)

Die Konflikte der Staaten werden nicht verschwinden, wie sie ja auch zwischen Individuen nie aufhören werden. Aber ihr Charakter wird sich ändern. Je weniger sie aus der Anarchie geboren, je mehr sie aus der Organisation hervorgegangen sein werden, um so weniger gefahrdrohend werden sie sein, um so leichter wird es fallen, sie durch Vernunftsschlüsse zu lösen.

 

3. Die gewaltlose Streitschlichtung

Es kann nicht heißen, an Stelle der Gewaltentscheidung ist die Rechtsentscheidung zu setzen. Ein Irrtum ist es, zu glauben, der Pazifismus wolle heute schon alle (größtenteils von der Anarchie vorgebrachten) Staatenkonflikte durch ein Schiedsgericht zur Lösung bringen. Es handelt sich für ihn nicht darum, Folgen zu beseitigen, ohne dass eine Änderung ihrer Ursachen vor sich gegangen ist; demnach nicht darum, Rechtseinrichtungen zu schaffen, um dadurch die Staatenkonflikte beizulegen, sondern vielmehr darum, den Charakter der Konflikte so um zu gestalten, dass diese durch Rechtseinrichtungen (oder andere Vernunftsmaßnahmen) beilegbar werden.2 Diese Umgestaltung vollzieht sich durch die Fortentwicklung der zwischenstaatlichen Organisation.

Die Schiedsgerichtsbarkeit ist übrigens nur ein Mittel der gewaltlosen Streitschlichtung, nicht das Mittel an sich. In erster Linie wird immer der Ausgleich durch Austausch von Vorteilen und wechselseitiges Entgegenkommen stehen. Namentlich in' der Übergangszeit von der Anarchie zur Organisation. Je mehr die Konflikte infolge der Organisation Rechtscharakter annehmen werden, um so mehr werden sich Rechtsgrundsätze entwickeln und zur allgemeinen Richtschnur dienen, so dass die Beilegung der Konflikte durch Rechtseinrichtungen (Schiedsgerichtsbarkeit, Staatengerichtsbarkeit, Untersuchungskommissionen) eine Beschleunigung des Streitlösungsverfahrens bedeuten werden.

4. »Abrüstung«

Das wechselseitige Überbieten an Rüstungen ist einer der schwerwiegendsten Folgen der zwischenstaatlichen Anarchie; gleichzeitig auch das deutlichste Erkennungszeichen der mangelnden Organisation. Der Mangel einer wechselseitig garantierten Sicherheit, der jeden Staat veranlasst, sich allein zu sichern, führt dazu, dass jede Schutzmaßnahme eines Staates die Gegenmaßnahmen der andern Staaten hervorruft. So erzeugt jede Schutzmaßnahme rückwirkend wieder erneute Bedrohung für jeden seine Rüstung anspannenden Staat. Dies führt zu jenem verderblichen Wettbewerb im Rüsten, unter dem die Völker verbluten.

Weder die absolute Sicherheit noch den Frieden im pazifistischen Sinne vermögen diese endlosen Vermehrungen der Rüstung zu bewirken. Sie erschweren lediglich den Kriegsausbruch, dienen aber nur zur Verlängerung jenes Zustandes, der oben (Nr. 1) als »Nichtkrieg« bezeichnet wurde.

Der Pazifismus denkt selbstverständlich nicht daran, durch Abrüstung das Verschwinden der Anarchie zu beschleunigen, das heißt, durch Beseitigung einer Folge zur Umwandlung ihrer Ursache gelangen zu wollen. Ihm ist auch der Rüstungswettkampf ein Symptom der Anarchie, das mit dem Fortschritt der zwischenstaatlichen Organisation gradweise verschwinden wird. Denn es sind bei diesem fein verästelten Problem Grade zu unterscheiden, die das plumpe Wort »Abrüstung« nicht annähernd kennzeichnet. Man muss unterscheiden zwischen: Unbeschränktem Wettrüsten, beschränktem Wettrüsten, zeitweiligem Rüstungsstillstand mit immer längerer Dauer, Verminderung der Rüstungen und »Abrüstung«. Der Pazifismus hält beide Extreme - die völlige Abrüstung wie den unbeschränkten Rüstungswettbewerb - für gleich widersinnig. In den Zwischenstadien liegt die Lösung. Je nach dem Stande der Entwicklung der zwischenstaatlichen Organisation werden die einzelnen Zwischenstadien sich verwirklichen. Für die Gegenwart handelt es sich um ein Ebenmaß der Rüstungen, das durch eine vertragsmäßige Regelung die unerträglich gewordene Energievergeudung wenigstens teilweise beseitigt.

 

5. Der »Krieg« im Rahmen der zwischenstaatlichen Organisation

An eine völlige Abrüstung wird selbst unter der Herrschaft der erreichten zwischenstaatlichen Organisation nicht gedacht. Denn die Notwendigkeit von Gewaltanwendung wird auch dann nicht ausgeschlossen sein; ebenso wenig wie sie im heutigen Rechtsstaat überflüssig erscheint. Es muss als möglich angenommen werden, dass die an der Organisation beteiligten Staaten Angriffe seitens minder kultivierter, noch außerhalb der Organisation stehender Staaten werden zurückweisen, oder durch ein Machtaufgebot werden vom Leibe halten müssen. Auch die Möglichkeit, dass man sich gegen Rechtsbrecher des eigenen Verbandes wird wehren müssen, wird gegeben sein. Allerdings wird jede Gewaltanwendung zu den denkbar größten Seltenheiten gehören: wird sie sich aber dennoch als notwendig erweisen, so wird sie nicht »Krieg« im heutigen Sinne bedeuten. Schon aus dem Grunde nicht, weil sie nicht eine Kraftanstrengung des gesamten Organismus sein wird, wie ihn der Krieg heute für den Staat ist. Sie wird nur nebenbei von den dazu bestimmten Organen ausgeübt werden, ohne das normale Leben der Staaten irgendwie zu erschüttern. So etwa wie heute eine Polizeiaktion das Leben der Rechtsstaaten nicht berührt. Die Existenz per organisierten Staaten wird eben durch die Organisation unbedingt geschützt sein. Aber die Ausübung der Gewalt wird auch ihrem Wesen nach grundlegend vom heutigen Krieg verschieden sein. Die Gewalt wird im Dienste des Rechtes stehen und nicht - wie beim Krieg - dessen Ersatz bilden. Sie wird nur das Recht herstellen, ohne es zu verletzen, daher keinen Hass und kein Rachebedürfnis hinterlassen. Die Ausübung wird deshalb niemals einen Ruhmestitel bilden, sondern zur trockenen Pflichterfüllung werden, wodurch der Gewaltkultus, dem heute die Geschichte dient, ganz in Fortfall kommen wird. Es wird eben nicht mehr anarchische Gewalt sein, die zur Anwendung gelangt, sondern regulierte. Und regulierte Gewalt ist Recht. Der Apache, der den Wanderer tötet, übt anarchische, der Gendarm, der den Apachen tötet, regulierte Gewalt. Die Handlungen sind gleich; ihr Wesen ist verschieden.

Man sieht, das Märchen vom »ewigen Frieden« ist nicht im Programm des Pazifismus begründet.

6. Was ist »Krieg«?

Zur Zeit des isolierten Staates war die Politik ein Handwerk, dem es oblag, den Staatswillen nach außen hin durchzusetzen. Es wurde friedlich ausgeübt, solange sich kein Widerstand geltend machte; mit Gewalt, wenn solcher sich entgegenstellte; was bei der völligen Anarchie, in der die Staaten lebten, die Regel war. Der Krieg war eine ständige, zur Durchführung der Lebensbedürfnisse des Staates bestimmte Einrichtung und wirklich - wie Clausewitz ihn definieren durfte - »die Fortsetzung der Politik, nur mit andern Mitteln«. In unserer Zeit der fortschreitenden (wenn auch noch nicht vollendeten) zwischenstaatlichen Organisation ist die Politik die Kunst geworden, die Befriedigung der verschiedenen noch vorhandenen Einzelinteressen der Staaten ohne Verletzung ihrer bereits vorhandenen gemeinsamen Interessen herbeizuführen. Der Krieg ist nicht mehr die » Fortsetzung« der Politik, sondern deren Bankrott. Der Krieg ist deshalb heute keine Einrichtung mehr, sondern ein Zustand, der eintreten kann infolge des Mangels einer vollständig gefestigten zwischenstaatlichen Ordnung; jener teilweisen zwischenstaatlichen Anarchie , die noch immer die Möglichkeit bietet, dass einzelne Staaten wirkliche oder vermeintliche Vorteile zum Nachteile anderer Staaten durch Gewaltanwendung erringen können. Der Zustand Krieg ist der Ausfluss anarchischer Motive.

Die Gewaltanwendung allein bildet noch nicht das Kriterium des Krieges. Wir sehen in ihm zwei verschieden motivierte Arten von Gewalt wirken, die gleichmäßig jenen Komplex von Erscheinungen zeitigen, die man als Übel empfindet (so die Vernichtung von Menschenleben und Gütern, Auftreten verheerender Krankheiten, Hemmung von Verkehr, Recht, Wirtschaft usw.): Die eigentliche, aus der mangelnden gefestigten Ordnung hervorgegangene, aus der Anarchie geborene Gewalt und die von jener wieder hervorgerufene, zur Abwehr bestimmte Gewalt. Nur wer die erstere anwendet, ist der Urheber des als Übel empfundenen Zustandes, »führt « in Wirklichkeit den Krieg. Nicht aber der, der sie abwehrt. Die von der Anarchie abgeleitete Aktion - es muss nicht immer die des eigentlichen Angreifers sein - bildet das Primäre, ihre Abwehr nur eine sekundäre Teilerscheinung jenes Zustandes. (Siehe oben die Darlegungen über anarchische und regulierte Gewalt im 5. Abschnitt.)

Der ursächliche Pazifismus richtet sich in seinem dem Krieg geltenden Kampf natürlich gegen das Primäre, gegen die aus anarchischen Motiven herrührende Gewaltaktion, nicht gegen die dadurch ausgelöste Rückwirkung, gegen die sekundäre Gewaltanwendung, die nur Folgeerscheinung ist.

Aber gerade an diese sekundäre Erscheinung des Zustandes »Krieg« denken in der Regel jene, die den Pazifismus glauben bekämpfen zu müssen, weil sie annehmen, dass Kriege auch notwendig, ja sittlich sein können. Was bei jenem Zustand als notwendig oder sittlich erscheint, ist nicht der Krieg als solcher, sondern nur jene sekundäre Aktion zu seiner Abwehr; also gerade das, was der Pazifismus durch das rationellere Mittel der Vorbeugung zu erreichen beabsichtigt.

 

7. Nation und zwischenstaatliche Organisation

Die falschen Voraussetzungen über Wesen und Ziel der Friedensbewegung haben dieser den Vorwurf antinationaler Haltung eingetragen. Vor allen Dingen die irrige Annahme, als handle es sich um die alleinige Verminderung der Rüstungen des eigenen Landes, um den sogenannten »Frieden um jeden Preis «, d.h. Aufgabe jeder Verteidigung gegen einen Angriff, um grundsätzliche Gegnerschaft gegen die Armee. Derartige Ideen sprechen gegen die Vernunft, sie haben mit dem Wesen und dem Ziel des Pazifismus nichts zu tun. Für viele national gesinnte Menschen hat über dies das Wort »international « noch immer die Bedeutung von »antinational «. Im Rahmen des Pazifismus spielt aber das Internationale im eigentlichen Wortsinn überhaupt keine Rolle. Es hat nur den Anschein, dass es so wäre, weil es im Sprachgebrauch eingebürgert und der Abkürzung und Biegungsfähigkeit halber noch immer vorwiegend gebraucht wird. Die pazifistische Idee berührt gar nicht die Beziehungen der Nationalitäten, sondern die der Staaten, d. h. der Regierungen wie der (oft nationalgemischten) Staatsvölker, wofür die Bezeichnung »zwischenstaatlich« sinngemäßer ist. Die zwischenstaatlichen Verbindungen, um die es sich handelt, sollen in erster Linie dazu dienen, dem einzelnen Staat Vorteile zu verschaffen, die er isoliert gar nicht oder nur unter unverhältnismäßig großen Opfern erringen kann. International im modernen Sinne heißt daher nicht antinational, sondern hächstnational, bedeutet die durch den geringsten Kraftaufwand bewirkte höchste Sicherheit und höchste Wohlfahrt.

Der Hauptgrund, warum dies von den Gegnern der Friedensbewegung so oft verkannt wird, ja warum diese dazu gelangen, jenen patriotischen Bestrebungen eine antipatriotische Wirkung unter zu schieben, liegt darin, dass jene Kreise, noch immer daran gewöhnt, den Staat fälschlich als eine von den übrigen Staaten völlig losgelöste Einrichtung anzusehen, auch die Friedensbewegung als eine nur in ihrem jeweiligen Vaterland wirkende Kraft betrachten.

Die Friedensbewegung wirkt aber in allen Staaten, und - einerlei, ob sie in einem oder dem andern Staate größeren oder geringeren Anhang hat - ihre Voraussetzung ist immer das Zusammenwirken aller Kulturstaaten. Wenn sie die Sicherung des Weltfriedens, die Herstellung einer zwischenstaatlichen Ordnung, den Verzicht auf Eroberung verlangt, so geschieht dies daher nicht in der Absicht, dass der einzelne Staat diese Forderungen erfülle und die anderen ihnen gegenüber taub bleiben, sondern mit der unbedingten Voraussetzungen einer nur gemeinsam denkbaren Aktion. So aufgefasst, geht dieses Streben auf einen Schutz der einzelnen Staaten hin, wirkt es in denkbar praktischstem Sinne patriotisch.

8. Die »Menschennatur«

Nicht der Kampf soll beseitigt werden, sondern nur seine roheste, die physische Form. Ein Prozess, der ganz selbsttätig fortschreitet; denn die ganze Entwicklung der Menschheitskultur hat immer mehr den Boden des physischen Kampfes verengert und an seine Stelle den geistigen Kampf gesetzt. Wer dies bestreitet, bestreitet die Weltgeschichte. Nur zwischen den Staaten bildet der physische Kampf heute noch die Regel. Längst nicht mehr ohne Einschränkung. Auch hier nimmt der psychische Kampf schon eine hervorragende Stelle ein. Selbst der heutige Rüstungswettbewerb lässt sich als ein »Kampf mit der Zahl«, also als ein psychischer, erkennen. Man übt die in den Armeen und Flotten angesammelte Macht in der Regel gar nicht mehr aus, sondern deutet sie nur an, wie das Papiergeld das in den Kellern der Bank lagernde Barkapital andeutet. Der Kampf wird durch seine Verfeinerung nicht beseitigt; er wird sogar umfangreicher und vielfacher. Und je umfangreicher er wird, um so ergebnisloser erweist sich die Anwendung physischer Mittel. Und nur der Kampf ist der Vater aller Dinge, nicht - wie man gerne verwechselt - der Krieg, der immer mehr zum Hemmnis des Fortschritts wird.

Der »Kampf ums Dasein« wird nirgends in der Natur zur Vernichtung der eigenen Art geführt. Dieses Verhängnis ist unter allen Lebewesen nur bei den Menschen zu beobachten. Hingegen herrscht in der gesamten Natur innerhalb der Arten das Gesetz der »gegenseitigen Hilfe«. Der Kampf ums Dasein hat nur in dem Kampf der Menschen gegen die Naturgewalten Berechtigung, denn nur da ist er produktiv. Und dieser Kampf ist es gerade, der den Menschen zur Organisation treibt. So rechtfertigt sogar das Naturgesetz des Kampfes den Pazifismus.

Um den Krieg aus den zwischenstaatlichen Beziehungen aus zu schalten, müssen die Menschen nicht, wie man skeptisch behauptet, erst »Engel werden«. Sie brauchen nur das wirklich zu sein, was sie von Natur aus sind: Egoisten, die jedoch ihre wirklichen Interessen erst richtig erkennen lernen müssen.

Daraus ergibt sich auch die Nichtigkeit des Einwandes, der Krieg wäre unausrottbar, weil er in der »Natur« des Menschen begründet sei. Aber angenommen, dieser Einwand wäre richtig. Auch der Geschlechtstrieb ist in der Natur des Menschen »begründet«; doch weiß sich die Gesellschaft davor zu schützen, wenn einer die von ihr diesem mächtigen Naturtriebe errichteten Schranken durchbricht. Niemandem würde es mehr einfallen, die Sexualverbrecher mit den Naturgesetzen entschuldigen zu wollen.

 

9. Umfang und Wirkung der pazifistischen Bewegung

Der Umfang des Pazifismus ist nicht beschränkt auf die zu seiner Propagierung dienenden Vereinigungen (Friedensgesellschaften und sonstige Organisationen). Diese Vereinigungen sind nur die sichtbar werdenden Ausläufer einer durch das Wesen der neuzeitlichen Kultur bedingten und mir ihr untrennbar verbundenen Erscheinung. Jeder, der in der Richtung der Kultur arbeitet, wirkt im Dienste des Pazifismus. Alle unsere Kultureinrichtungen sind Brücken für dessen Verwirklichung. Daher ist die Zahl der pazifistisch Wirkenden unermessbar. Sie ist nicht gleichwertig mit der Mitgliederzahl der pazifistischen Organisationen. Dort finden sich nur die bewussten und zur Vortrupp-Arbeit bereiten Pazifisten zusammen. Dann gibt es noch die Masse der unbewussten Pazifisten, die da wirken, ohne es zu wollen, einfach durch den sie dirigierenden Druck der Dinge. Dann die zwar bewussten, aber zur Vortrupp-Arbeit zu bequemen. Auch die Gegner sind Mitarbeiter, da ihr Druck den Antrieb zum Gegendruck abgibt.

Es ist falsch, sich vorzustellen, die pazifistischen Organisationen seien begründet worden, um künstlich von außen die Friedensidee in die Zeit hinein zu tragen. In Wirklichkeit sind sie aus der Zeit heraus geboren und lassen deren wahre Tendenz erkennen. Wie lächerlich ist es daher, die Organisationen bekämpfen zu wollen. Man zerschlägt den Thermometer, um die Hitze oder die Kälte abzuschwächen.

Die pazifistischen Organisationen bilden auch keine ununterschiedene Einheit. Eine über die Welt verbreitete »Internationale Friedensliga «, wie man sich dies so vorstellt, gibt es nicht. Aus den vielfachen Regungen unserer Zeit in das politische Leben projiziert, tragen die verschiedenen pazifistischen Organisationen Physiognomie und Charakter der verschieden gearteten Volkselemente, die sich in ihnen gruppieren.

Je nach den verschiedenen Voraussetzungen, von denen sie ausgehen, oder den verschiedenen Gesichtspunkten, die sie in den Vordergrund stellen (wie religiöse, wirtschaftliche, soziale, philosophische Gesichtspunkte), erstreben sie verschieden weit gesteckte Ziele nach verschieden gearteten Methoden; oder sie beschränken sich auf gewissen Teilaufgaben. Ihre Zusammengehörigkeit wird lediglich dargetan

  • a) durch den Ausgangspunkt, der in der Auflehnung gegen das bestehende System der Staatenbeziehungen liegt,
  • b) durch die gleiche Richtung des Strebens nach Abänderung jenes Systems.

Daraus ergibt sich auch, dass für die Anschauungen, Handlungen und Methoden einzelner Organisationen nie die Gesamtheit des Pazifismus verantwortlich gemacht werden darf. Maßgebend für diesen ist immer nur die jeweilig höchst stehende wissenschaftliche Doktrin, die dem jeweiligen Stande der politischen Entwicklung am besten angepasst ist.

Im übrigen ist es nicht notwendig, festzustellen, welche Organisation die beste, folgerichtigste und wirksamste ist; da jede dem Verständnis der verschiedensten Kreise angepasst ist, die deshalb nur in dieser bestimmten und nicht in einer anderen Organisation der Sache dienen können. Wie sich das Maß der Kleidung nach der körperlichen Entwicklung des Individuums richten muss, und eine Kleidung nach Einheitsmaß für die Menschheit nicht verwendbar wäre, so muss auch das Wesen der pazifistischen Organisationen den verschiedenartigen geistigen Bedürfnissen und Lebensverhältnissen der Menschen angepasst sein.

Es kommt dabei wirklich nicht so sehr darauf an, eine Organisation zu schaffen, die die einzig richtige Methode anwendet und das einzig richtig abgemessene Ziel ins Auge fasst, als vielmehr darauf, für alle Augenmaße und Kräfte angepasste Verbände zu haben. Denn auch hier gilt die Lehre: Das Endziel ist gar nichts, die Bewegung ist alles.

Man darf nämlich nicht glauben, dass irgend eine pazifistische Organisation kraft ihres besseren Programms oder ihrer richtigeren Methoden den Weltfrieden eines Tages allein fertigstellen wird. Dieses Ziel wird nicht erreicht werden durch eine plötzliche Annahme der empfohlenen Grundsätze eines Vereins seitens der Allgemeinheit, sondern durch eine allmählich vor sich gehende Durchdringung der Geister, wodurch die führenden Personen - oft ganz unbewusst und unbelehrt - anfangen werden, pazifistisch zu handeln, nachdem andere für sie vorher pazifistisch gedacht haben. Der Weltfrieden wird sich ereignen durch eine völlige Umwandlung der Anschauungen und der Werturteile. Nicht, weil der Pazifismus gewisse Forderungen gestellt hat, werden diese erfüllt werden, sondern lediglich, weil die durch ihn in Fluss gebrachte Bewegung, das durch ihn erweckte Denken, der durch ihn erregte Kampf für und wider seine Forderungen diesen geistigen Wandel vollzogen haben wird. Nicht die Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der Programme, nicht die Zahl der eingeschriebenen Mitglieder der einzelnen Organisationen wird diesen Wandel bewirken, sondern der Umfang, die Masse, die Mannigfaltigkeit der gesamten Bewegung und ihre dadurch zunehmende Eindruckfähigkeit und Beschleunigung.

10. Der Friede »um jeden Preis«

Um eine ganz bestimmte Unterscheidung zum Ausdrucke zu bringen, haben sich die Vertreter der Friedensbewegung, die man bis dahin allgemein als »Friedensfreunde « bezeichnete, (seit 1901) »Pazifisten« genannt. Zwischen »Friedensfreunden« und »Pazifisten « besteht nämlich ein grundlegender Unterschied. Jeder normale Mensch wird den Krieg als ein Übel empfinden, die Annehmlichkeiten des Friedens lieben, demnach ein Freund des Friedens sein. Auch der verbissenste Kriegshetzer wird so denken. Aber damit ist man noch kein "Pazifist«. Zunächst, weil es sich bei dem bloßen Friedensfreund nur um den Zustand des Nicht-Krieges handelt, der, wie an der Spitze dieser Ausführungen dargelegt ist, von dem pazifistischen Friedensbegriff wesentlich verschieden ist. Der »Friedensfreund« wird den Zustand des Nicht-Krieges auch nur so lange lieben, als ihm nicht gerade ein Konflikt oder ein vermeintliches oder wirkliches Interesse seines Volkes Anlass gibt, eine gewaltsame Lösung für nützlich zu halten. Er wird »Friedensfreund« sein, solange gerade kein Krieg in Aussicht ist und solange seine Wünsche befriedigt erscheinen. Er wird aber immer mit dem Krieg als mit einem nützlichen und wertvollen Mittel rechnen. Der Pazifist, der unter Friede nicht die Pause der Gewaltanwendung zwischen zwei Kriegen versteht, sondern die Überwindung der zwischenstaatlichen Anarchie durch die zwischenstaatliche Ordnung, begnügt sich nicht damit, ein »Freund« jenes sogenannten Friedens, das heißt der Kriegspause, zu sein, sondern sucht die Garantien und Mittel zu schaffen, die gerade für den Fall ernster Konflikte die Gewaltanwendung vermeidbar machen können. Der Pazifist begnügt sich nicht, den Frieden im Frieden zu lieben, sondern strebt dahin, die Sicherung der internationalen Ordnung für den Fall des Konfliktes vorzubereiten.

Dieses Bestreben tritt natürlich am deutlichsten gerade zu Zeiten eines bedrohlichen Konfliktes zutage, wenn die öffentliche Meinung kriegerisch beeinflusst ist. Das hat den Pazifisten seitens ihrer Gegner den falschen Vorwurf eingetragen, dass sie den »Frieden um jeden Preis « wünschen. In diesem Vorwurf liegt der Versuch einer Verächtlichmachung im Sinne der Vaterlandsliebe. Er schließt den Gedanken ein, dass der Pazifist den Krieg auch dann vermieden wissen will, wenn Ansehen und Vorteil des Vaterlandes dadurch geschmälert werden. Es soll der Glaube erweckt werden, als handelten die Pazifisten in besinnungslosem Fanatismus, ähnlich wie die Rechtsfanatiker der Vergangenheit, die den Satz geprägt: »Fiat justitia pereat mundus.« Danach sollen die Pazifisten mit ihrem Streben, den Krieg zu vermeiden, so weit gehen wollen, dass dadurch ein größeres Übel gezeitigt werden soll. Das wäre natürlich unlogisch. Die Logik bildet aber für alle Bestrebungen zur Erhöhung des Wohles der Menschheit jenes Ventil, das verhütet, dass Vernunft Unsinn, Wohltat Plage werden. Die Ausschaltung des Krieges wird von den Pazifisten nur deshalb erstrebt, weil der Menschheit dadurch Vorteile gewahrt werden. Dies reguliert den »Preis«, um dessen willen der Friede erreicht werden soll. Die Tatsache, dass der Friede nur so lange erstrebt wird, als er dem Kriege gegenüber einen Vorteil bedeutet, ist das automatische Ventil, das es verhütet, dass die pazifistischen Bestrebungen in jenes Extrem verfallen, das die Gegner durch den Vorwurf der Erstrebung eines »Friedens um jeden Preis« den Pazifisten als Programm zumuten.

Diese Logik muss nur begriffen werden. Die Gegner des Pazifismus, die dies aber nicht vermögen oder nicht wollen, suchen durch jenen Vorwurf lediglich die eigene Freihändigkeit bei der Betreibung der Kriegshetze, die durch die pazifistische Propaganda doch schon merkbar beeinträchtigt wird, wieder zu erlangen. Er soll ihnen nur ermöglichen, die Vernunftkräfte, die für den Frieden walten, auszuschalten, indem er sie verdächtigt. Das Schlagwort vom »Frieden um jeden Preis« hat keinen anderen Zweck, als die Freiheit zum Krieg führen vor lästigen Hemmnissen zu schützen und die Vertretung der Interessen einiger Weniger zum Nachteile des Gesamtwohles zu wahren!

 

11. Die Stellung des Pazifismus zum akuten Kriegeinnerhalb der noch vorherrschenden internationalen Anarchie

Die Friedensbewegung arbeitet gegen den Krieg, weil er noch immer möglich ist und ständig droht. Dies begründet ihre Daseinsberechtigung; die Bewegung wäre überflüssig, wenn der Friedenszustand gesichert wäre.

Merkwürdigerweise wird diese Binsenwahrheit von der öffentlichen Meinung in einem unerhörten Umfange nicht verstanden. Denn gerade in Zeiten zwischenstaatlicher Wirren und drohender bewaffneter Konflikte bezeichnet man die Friedensbewegung als etwas Unzeitgemäßes. Als ob es zeitgemäß wäre, nur dann für den Frieden zu wirken, wenn seine Bedrohung ausgeschlossen erscheint. Die vorhandene Krise kann niemals das Bestreben, ihr vorzubeugen, als unnütz erscheinen lassen. Die hygienische Propaganda ist nicht überflüssig, weil durch mangelnde hygienische Einrichtungen Seuchen entstehen; die Forderung nach Imprägnierung leicht brennbarer Gegenstände ist nicht zwecklos, weil Feuersbrünste durch Unterlassung dieser Vorbeugemaßnahmen ausbrechen.

Die verkehrte Auffassung über die Stellung des Pazifismus dem akuten Kriege gegenüber lässt sich durch den Aberglauben erklären, der den Krieg noch immer als ein, menschlicher Einwirkung unzugängliches, Naturereignis betrachtet. Man hat sich deshalb daran gewöhnt, die Pazifisten für Leute zu halten, die, diesem angeblich Unabwendbaren Eintreten gegenüber, sich darauf beschränken, den Frieden zu »lieben« und zu »preisen«, wie man den glatten Meeresspiegel der Sturmsee vorzieht, das schöne Wetter dem Wolkenbruch. So beschränkt man sich darauf, die Pazifisten als Leute zu achten, die das Schöne und Gute dem Hässlichen und Bösen vorziehen, und die man bedauern muss, wenn Ereignisse eintreten, die nicht mehr »schön« und »gut« sind, die ihnen also eine Enttäuschung bringen sollen. So muss der Gedankengang jenes höheren politischen Beamten gewesen sein, der mir zur Zeit der Balkankrise sagte: »Ich möchte jetzt kein Pazifist sein.« Das heißt: ich möchte nur dann ein Freund des schönen Wetters sein, wenn die Sonne scheint, weil ich sonst bei Sturm und Regen unter meinen Neigungen zu leiden hätte. Wie verschroben diese Anschauung ist, braucht kaum erläutert zu werden. Am wenigsten jenen, die die obigen grundlegenden Ausführungen gelesen haben.

Dann gibt es wieder auch Leute, die bei Ausbruch eines Krieges die Pazifisten dafür verantwortlich machen. Sie rufen mit Emphase nach uns und werfen uns Heuchelei vor, weil wir bloß im (von ihnen sogenannten) Frieden gegen den Krieg arbeiten, wo es ihrer Ansicht nach nicht nötig ist. Sie wissen nicht, dass man den akuten Krieg nicht bekämpfen kann, dass man die Ursachen, die ihn zeitigen, wandeln muss, um den Ausbruch der Hölle zu vermeiden. Ihnen sagen wir: Wir sind keine Feuerwehr, die man ruft, um einen Brand zu löschen. Wir sind lediglich die Anpreiser eines Imprägnierungsmittels, das bei rechtzeitiger Anwendung den Brand verhüten kann.


Alfred Hermann Fried (1864-1921)
, Verlag der »Friedens-Warte« I9I4 - Berlin und Leipzig