Lehrt uns nicht das Leben, dass die Grausamkeiten der Menschheit in dem Maße zunimmt, als die Grausamkeiten des einzelnen Menschen abgenommen hat? Man hat die Grausamkeit wilder Völker lange missverstanden ; jetzt weiß man, dass sie den stärkeren Teil ihrer Wurzeln in gläubigen oder abergläubischen Vorstellungen hat. Aber nur um so unerklärlicher ist dann die weitaus gefährlicher gewordene Grausamkeit in der Zivilisation. Sollte am Ende die wirkliche Grausamkeit erst durch die Domestikation und Zivilisation entstehen? Das wilde Tier ist nicht grausam, es handelt zweckmäßig, es tötet wenn es Hunger hat oder sich bedroht fühlt und geht in der Kampfhandlung höchstens so weit über das Nötige hinaus als die Erregung es verständlich sein lässt. Erst wenn ein Trieb nicht mehr der Not dient, schlägt er nach allen Seiten aus und steigert sich unermesslich. Am grausamsten sind satte Katzen und am wildesten Hunde hinter einem Zaun. Robert Musil (1880-1942), "Notizen und Fragmente"