Auch das Studium selbst guter Geschichtsbücher führt zu einer eigentümlichen Einstellung zum Weltgeschehen. Die Geschichte behandelt Kollektivschicksale und nicht Einzelschicksale, die Völker und nicht die Menschen, von Einzelmenschen nur die wenigen Führer und Oberhäupter. Und doch erlebt immer wieder nur das ich und nur was ein Ich erlebt, ist ein Erlebnis. Die Schicksale eines Volkes werden von den einzelnen Volksgenossen vielfach gar nicht erlebt. An den historischen Ereignissen sind ja nur verhältnismäßig Wenige direkt beteiligt und auch die direkt Beteiligten haben ihr Leben lang weit mehr an ihrem Einzelschicksal als an ihrem Volksschicksal zu tragen gehabt. Es ist immer noch besser und begehrenswerter im geschlagenen Deutschland Bergbesitzer als im siegreichen Frankreich Grubenarbeiter zu sein, besser in Deutschland jung als in Frankreich alt zu sein, besser in Deutschland gesunde als in Frankreich kranke Kinder zu haben. Die Geschichtsdarstellung bedeutet eine systematische Umdeutung von Ereignissen zu Erlebnissen. Die Geschichte als Erziehungsmittel hat aber die Tendenz, Ereignisse so darzustellen, dass sie zu affektbetonten, besonders wunschbetonten Erlebnissen werden. Sie berichten von Kriegen, um Kriegslust zu erzeugen....
Geschichte müsste in den Schulen als Kulturgeschichte gelehrt werden, wobei selbstverständlich die Katastrophen, die die Menschheit trafen, also hauptsächlich die Kriege, nicht verschwiegen werden dürfen. Aber als Katastrophen, krankhafte Verirrungen der Menschheit oder ihrer Führer müssten sie wahrheitsgemäß dargestellt werden. Der schwerste Schicksalsschlag, der die Menschheit in den Jahren 1866-1867 traf, das von den Betroffenen am schwersten empfundene Erlebnis, war nicht die Schlacht bei Königgrätz, sondern die als unmittelbare Folge und Begleiterscheinung des Krieges auftretende Choleraepidemie von 1866-1867. Das müsste jedes Kind lernen. Erlebnisse wiegen mehr als Ereignisse. Emil Flusser (1888-1942), "Krieg als Krankheit", 1932
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