Gewaltlosigkeit im 21. Jahrhundert
Herausforderungen und Möglichkeiten
von Arun Gandhi
Gewaltlosigkeit als Streben nach Wahrheit
Blicken wir zurück auf die erste Herausforderung, die Mohandas Karamchand Gandhi bei der Entwicklung seiner Philosophie der Gewaltlosigkeit in Südafrika hatte: Damals suchte er nach einem geeigneten Begriff, um seine Philosophie zu beschreiben, konnte jedoch keinen finden. »Passiver Widerstand« und »ziviler Ungehorsam« eigneten sich nicht, denn die Bewegung habe, so Gandhi, nichts Passives oder Ungehorsames. Er bot schließlich eine Belohnung für denjenigen, der ihm einen positiven englischen Ausdruck anbieten könnte, um das zu beschrieben, was er im Sinn hatte. Doch leider konnte es niemand.
Da Gandhi plante, nach Indien zurückzukehren und den indischen Freiheitskampf zu führen, entschloss er sich, ein geeignetes Wort aus dem Sanskrit zu verwenden. Er fand, dass Satyagraha seine Philosophie am besten beschrieb – eine Kombination aus Satya, »Wahrheit«, und Agraha, »Streben nach«. Satyagraha bedeutet somit »Streben nach Wahrheit«, was insofern wichtig ist, als es dem Gegenteil des westlichen Konzepts eines »Besitzens der Wahrheit« entspricht.
Gewaltlosigkeit lässt sich folglich als das ehrliche und gewissenhafte Streben nach Wahrheit beschreiben. Aber es kann auch die Suche nach dem Sinn und Zweck des Lebens bedeuten – Fragen, welche die Menschheit bereits seit Jahrhunderten um treiben. Die Tatsache, dass wir bisher noch keine befriedigenden Antworten auf diese Fragen finden konnten, bedeutet nicht, dass es keine gibt. Es bedeutet lediglich, dass wir nicht in aufrichtiger Weise gesucht haben. Die Suche muss sowohl als eine innerliche als auch eine äußerliche geschehen. Wir versuchen, diese eminent wichtige Suche zu umgehen, denn die Opfer, die sie erfordert, sind nicht ohne Wirkung auf unsere Entwicklung: sich von Habgier, Selbstsucht, Besitzdenken und Herrschaft abzuwenden und der Liebe, Mitgefühl, Verständnis und Respekt zuzuwenden. Es bedeutet auch, unserem Glauben und unserer Religion treu zu sein – es reicht nicht, zehnmal am Tag zu beten, wenn wir die Schriften nicht zum Fundament unseres Daseins machen.
Aufgrund unserer materialistischen und habgierigen Lebensweise sind wir sehr besitzergreifend geworden. Wir versuchen nicht nur materielle Güter, sondern auch innere Überzeugungen zu besitzen – sogar den Frieden, wenn wir ihn finden. Wie oft haben wir jemanden sagen hören: »Ich habe meinen Frieden gefunden.« Gurus sagen zu ihren Verehrern: »Finde deinen Frieden und bewahre ihn.« Kann denn irgendjemand Frieden oder geistige Erleuchtung finden und sie habgierig für sich beanspruchen?
Die Bedeutung von Frieden
Eine der Lieblingsgeschichten, die uns Großvater gern erzählte, war die eines alten indischen Königs, der von dem Verlangen besessen war, die Bedeutung des Friedens zu finden. Was ist Frieden, wie können wir ihn erreichen und was fangen wir mit ihm an, wenn wir ihn finden, waren einige der Fragen, die ihn beschäftigten. Kluge Köpfe aus seinem Königreich wurden aufgefordert, gegen eine ansehnliche Belohnung die Fragen des Königs zu beantworten. Vielen versuchten es, jedoch konnte niemand erklären, wie Frieden zu finden und was mit ihm anzufangen sei.
Schließlich riet jemand dem König, einen Weisen zu konsultieren, der außerhalb der Grenzen seines Königtums lebte: »Alt ist der Mann und sehr weise«, sagte man dem König. »Wenn irgendjemand auf Eure Fragen antworten kann, dann er.« So ging der König zu dem Weisen und stellte die ewige Frage. Ohne ein Wort zu sagen, ging der Weise in die Küche und brachte dem König ein Weizenkorn. »Darin werdet Ihr die Antwort auf Eure Frage finden«, sagte der Weise und legte das Korn in die ausgestreckte Hand des Königs.
Verwirrt aber nicht willens, seine Unwissenheit einzugestehen, ergriff der König das Weizenkorn und kehrte in seinen Palast zurück. Er schloss das kostbare Korn in ein winziges goldenes Kästchen ein und stellte das Kästchen in einen sicheren Schrank. Auf der Suche nach einer Antwort pflegte der König jeden Morgen nach dem Aufwachen das Kästchen zu öffnen und das Korn anzusehen, aber ihm fiel nichts ein.
Einige Wochen später besuchte ein anderer weiser Mann, der gerade vorbeireiste, den König, der jenen sogleich eifrig dazu einlud, das Dilemma zu lösen. Der König berichtete, wie er die ewige Frage stellte, doch anstelle einer Antwort ein Weizenkorn von dem Weisen bekam. »Jeden Morgen suche ich nach einer Antwort, kann aber keine finden.«
Darauf sagte der Weise: »Das ist ganz einfach, Eure Hoheit. Genauso wie das Korn die Nahrung für den Körper versinnbildlicht, symbolisiert der Frieden die Nahrung der Seele. Wenn Ihr nun aber das Korn in einem Kästchen verschlossen haltet, wird es schließlich verderben, ohne genährt oder sich vermehrt zu haben. Ist ihm jedoch gestattet, sich mit den Elementen – mit Licht, Wasser, Luft und Erde – zu verbinden, wird es gedeihen und sich vermehren. Bald werdet Ihr dann ein ganzes Weizenfeld haben, das nicht nur Euch, sondern auch viele andere ernähren wird. Das bedeutet Frieden. Er muss Eure Seele und die anderer nähren und sich in Verbindung mit den Elementen vermehren.«
Im lebenslangen Streben nach Wahrheit müssen wir uns kontinuierlich von Liebe, Mitgefühl, Einsicht und Respekt leiten lassen, alles ermöglichen, um mit den Elementen in Harmonie zu leben, und dabei helfen, eine Gesellschaft in Frieden und Harmonie zu schaffen. Je mehr Besitz wir haben, umso mehr müssen wir ihn vor jenen sichern, die ihn begehren. Denn Besitz erzeugt Eifersucht und den Wunsch, dasjenige mit Gewalt zu nehmen, was der Bedürftige durch Mitgefühl nicht bekommen kann.
Befreiung von Angst
Erleuchtung oder Wahrheit zu finden hängt davon ab, wie ehrlich wir sind und ob wir uns von den Banden, die uns fesseln, befreien können. Gandhi war der Ansicht, dass politische und soziale Befreiung allein nicht ausreichen. Damit meinte er nicht, sorglos oder gleichgültig gegenüber dem Leben und unseren Beziehungen zu werden. Sich von seinen Fesseln befreien bedeutet, gewillt zu sein, sich für Wahrheit und Gerechtigkeit einzusetzen, ohne sich vor den Konsequenzen zu fürchten, wie dem Verlust von Besitz, Arbeit oder gar dem Leben. Erst auf dieser Ebene geistiger Stärke wird Gewaltlosigkeit relevant.
Als weiße Rassisten meinen Großvater in Südafrika demütigten, weil sie einen »schwarzen« Mann nicht in einem Erste-Klasse-Abteil reisen lassen wollten, forderte er die Nicht-Weißen in Südafrika auf, für ihre Rechte einzutreten. Doch er stieß nur auf Reaktionen, die von Ängsten beherrscht waren: »Was wird mit meiner Familie geschehen? Mit meiner Arbeit? Mit meinem Haus und meinem Besitz?« Die Mittelklasse war eher bereit, sich den Ungerechtigkeiten des weißen Mannes zu fügen, als sich aufzulehnen und das Risiko einzugehen, alles zu verlieren. Hier erkannte mein Großvater den korrumpierenden Einfluss des Materialismus.
Diese Denkweise ist nach wie vor weit verbreitet. Immer noch akzeptieren wir Ungerechtigkeit, weil wir fürchten, zu leiden und unseren Besitz oder unsere Sicherheit zu verlieren. Wahre Befreiung stellt sich aber erst dann ein, wenn wir uns der Ängste entledigen, die unser Leben kontrollieren. Letzten Endes ist dies der Schlüssel. Tatsächlich ist das, was Gewaltfreiheit bedingt, nichts Unmögliches. Wenn wir durch das Gesetz gezwungen werden, unser Leben zu opfern, um unser Land im Krieg zu verteidigen, fragen wir auch nicht, wer sich um die Familie kümmert oder was mit unserem Besitz passiert. Wir ziehen einfach los mit dem Wissen, vielleicht nie wieder zurückzukehren. Das ist ein Opfer, das einer einzelnen Person durch eine Regierung auferlegt wird. Warum ist es also für dieselbe Person so schwierig, dasselbe Opfer für Gerechtigkeit, ethische Grundsätze und Werte zu bringen?
"Ich bin bereit zu sterben, aber es gibt keinen Grund, für den ich zu töten bereit wäre°, sagte Gandhi.
Grundprinzipien der Gewaltlosigkeit auf sozialer Ebene
Die vier wesentlichen Prinzipien der Philosophie Gandhis sind recht einfach zu verstehen und zu erfüllen. Auf sozialer Ebene sind es Wahrheit, Ahimsa, Treuhandschaft und konstruktives Handeln; auf personeller Ebene: Respekt, Einsicht, Akzeptanz und Wertschätzung.
Die Bedeutung von Wahrheit ist offensichtlich. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie viele Seiten hat und sich ständig verändert. Was heutzutage als wahr erscheint, könnte es morgen nicht mehr sein. Oder was wir für die Wahrheit halten, muss nicht notwendigerweise anderen wahr erscheinen. Deswegen können wir nicht behaupten, Recht zu haben und somit unsere Auffassung von Wahrheit als die richtige ausgeben. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, alles aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und die Bescheidenheit haben, einzugestehen, dass wir falsch liegen können.
Ahimsa bezeichnet im Sanskrit den totalen Gewaltverzicht, das heißt die Gewaltlosigkeit im Denken, Sprechen und Handeln. Großvater erkannte die Grenzen von Ahimsa. Gänzlich gewaltlos zu leben, ist wahrscheinlich nicht für jeden möglich. Vielleicht ist es sogar für niemanden möglich. Dennoch muss es das Ziel eines jeden sein – in derselben Weise, wie in der Schule eine »Eins« zu bekommen, das Ziel eines jeden Schülers ist. Wenn ein Schüler mit der Überzeugung in die Schule geht, niemals eine »Eins« zu bekommen, dann ist er oder sie wahrlich in Schwierigkeiten. Diese Person hat sich dann bereits aufgegeben und wird ins Abseits geraten.
Treuhandschaft ist ein einzigartiges Konzept, das richtig verstanden werden muss. Jede Person hat das Talent oder die Fähigkeit, ihre Ziele zu erreichen. In dem Glauben, diese Talente oder Fähigkeiten zu »besitzen«, nutzen wir sie zum Erwerb persönlicher Ziele. Gandhi zufolge besitzen wir nicht Talent, sondern sind von Gott eingesetzte »Treuhänder«. Folglich müssen wir unser Talent dazu gebrauchen, denjenigen unter uns zu helfen, die weniger talentiert oder vom Glück begünstigt sind. Gleichwohl darf dieses »Geben«, »Teilen« und »Helfen« den Empfänger nicht lähmen.
Es ist nur ein schmaler Grat, der Mitgefühl von Erbarmen trennt, und oft verwechseln wir beides. Erbarmen ist erniedrigend und bedrückend, Mitgefühl indes ist sowohl für Geber als auch für Empfänger ermutigend. Wir erbarmen uns, indem wir einer hungrigen Person Geld geben, um Essen zu kaufen, oder sie in Armenküchen versorgen. Wenn die Versorgung mit Essen aufhört, verursachen wir ein Problem. Die Verköstigung sollte ein Mittel konstruktiven Handelns sein. Indem wir die Hungernden ernähren, machen wir sie von Almosen abhängig.
Mitgefühl hingegen erfordert insofern unsere Mitarbeit, als wir nach Möglichkeiten suchen müssen, wie den Benachteiligten geholfen werden kann, zu unabhängigen Bürgern zu werden. Die empfangene Hilfe sollte dazu dienen, ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstachtung, die sie durch Armut und Unterdrückung verloren haben, wieder aufzubauen.
Konstruktives Handeln ist die logische Folge von Treuhandschaft. Es bedeutet, an der Entwicklung konstruktiver Problemlösungen beteiligt zu sein. Da wir gemeinhin zu beschäftigt mit uns selbst sind, haben wir keine Zeit für jemand anderen oder etwas anderes. Gewöhnlich wollen wir die Verantwortung auf den Schultern von anderen abladen – bevorzugt auf denen der Regierung, obschon dieser enge Grenzen gesetzt sind. Bürokraten oder bezahlte Sozialarbeiter besitzen nicht immer das für diese Art von Arbeit erforderliche Mitgefühl. 1970 entschieden sich in Mumba City in Indien sechs junge Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten und ihre Kinder versorgen mussten, etwas gegen die überhand nehmende Obdachlosigkeit in der Stadt zu unternehmen.
In Anwendung von Gandhis Philosophie der Treuhandschaft und des konstruktiven Handelns versammelte die Gruppe unter Führung von Mahipat Rao Mohite über 500 Obdachlose und rief sie auf, an der Problemlösung selbst mitzuwirken. Indem sie täglich eine Münze beiseite legten, sollte das nötige Kapital angespart werden, um ein wirtschaftliches Unternehmen auf die Beine zu stellen. Mohite hätte Spenden erbitten oder für Unterstützung werben können, aber das hätte den Obdachlosen das Gefühl gegeben, ihre Bedürfnisse nur aussprechen zu müssen, um sie auf einem silbernen Tablett zu empfangen.
Gemeinsam müssten die Obdachlosen jeden Tag eine Münze beiseite legen, sagte Mohite. Die meisten Menschen würden es wohl für unmöglich halten oder sogar als herzlos empfinden, jemanden zum täglichen Sparen anzuhalten, der nicht weiß, von was er die nächste Mahlzeit bestreiten soll. Dennoch nahmen die Obdachlosen die Herausforderung an und mit Mohites Unterstützung brachten sie in etwa 19 Monaten einen Betrag von umgerechnet 11.000 Dollar zusammen.
Mit dem Geld wurde 1971 in Vita Village in der Nähe von Sangli, 320 km südlich von Mumbai, eine kleine Textilfabrik mit gebrauchten Webmaschinen gegründet. Etwa 70 Obdachlose begannen in der gemeinschaftlichen Fabrik unter der Anleitung von Mohite und seiner Freunde zu arbeiten, bis sie so weit ausgebildet waren, um das Unternehmen eigenständig zu führen. Von denen, die damals die Sparaktion unterstützten, sind heute alle in ihre Dörfer zurückgekehrt; sie leben von den Erträgen ihrer vier Textilfabriken, haben einen weit besseren Lebensstandard und können ihren Kindern sowohl Schul- als auch höhere Bildung ermöglichen.
Die Obdachlosen sparten weiter, und 1978 öffnete die »Sangli Jilla Kranti Cooperative Bank« in Mumbai. Heute hat die Bank sieben Filialen und verfügt über ein Gesamtvermögen von zwei Millionen Dollar. Sie ist ein Beispiel dafür, was Gandhi mit Treuhandschaft und konstruktivem Handeln gemeint hat. Mohite und seine Freunde opferten nichts, außer ihrer Freizeit und ihren Ferien.
Grundprinzipien auf personeller Ebene
Das erste der vier Prinzipien der Gewaltlosigkeit, die einzelne Personen beherzigen sollen, besteht im Respekt. Wir müssen uns selbst respektieren, den Anderen und unsere Beziehung zur ganzen Schöpfung. Besonders im Westen hält sich beharrlich der Mythos, dass wir unabhängige Individuen seien und anderen gegenüber keine Verpflichtungen hätten. Eine zusammenhängende Gesellschaft kann aber nicht aus Individuen bestehen, die jeweils in eine andere Richtung ziehen. Um Harmonie und Zusammenhalt zu erreichen, müssen wir erkennen, dass wir voneinander abhängig, aufeinander verwiesen und miteinander verbunden sind, wenn wir eine menschliche Gemeinschaft aufbauen wollen.
Es reicht nicht, einzelne Menschen zu achten. Wir müssen überdies andere Kulturen, abweichende Lebensweisen und fremde Weltanschauungen respektieren. Die Gefahr besteht in unserem Konkurrenzdenken, in der Ansicht, der eigene Weg sei der einzige und beste, und in dem Versuch, anderen unseren Weg aufzuoktroyieren. Zu behaupten, unser Weg sei der beste, hieße, dass wir die Wahrheit »besäßen«. In dem Moment, da wir auch anderen zugestehen, Recht haben zu können, beteiligen wir uns an der aufrichtigen Suche nach Wahrheit.
Religion, erklärte Großvater, sei der Beginn einer geistigen Reise. Wenn wir Religion richtig begreifen, erreichen wir ein Verständnis von Spiritualität, das unterschiedliche Möglichkeiten der Verehrung anerkennt und achtet. Erlösung tritt ein, wenn wir den Gipfel erreicht haben, wenn wir eins mit der Schöpfung werden und sie eins mit uns wird.
Einsicht erlangen wir, wenn wir lernen, wer wir sind und was unsere Aufgabe in der ganzen Schöpfung ist. Arrogant, wie wir sind, nehmen wir uns nicht als Teil der Natur wahr. Unsere Aufgabe sei es, die Natur zu bezwingen. In dem Versuch, sie zu beherrschen, zerstören wir jedoch unseren Lebensraum und können nicht davon ausgehen, sehr lange zu überleben.
Akzeptanz erreichen wir, wenn wir die physischen wie philosophischen Unterschiede zwischen den Menschen anerkennen. Wenn diese Unterschiede zu verschwinden beginnen, können wir einander schlicht als Menschen annehmen und auf die Etikettierung verzichten, die die Menschen voneinander trennt.
Auf dieser Stufe ist die Wertschätzung unserer Menschlichkeit erreicht.
Physische und passive Gewalt
Am sinnfälligsten wird Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit, wenn wir zunächst das Ausmaß der eigenen Tag für Tag – bewusst oder unbewusst – praktizierten Gewalt erfassen. Indem Großvater mich bat, einen Stammbaum der Gewalt nach genealogischen Prinzipien aufzustellen, machte er mir die Gewalttätigkeit der Gesellschaft und die in meinem Inneren bewusst.
Er sagte: »Gewalttätigkeit hat zwei Gesichter, physische und passive Gewalt. Ich möchte, dass du jeden Tag vor dem Zubettgehen zu jedem der beiden Aspekte alles, was du am Tag erlebt hast, und das Verhältnis der Gewaltformen untereinander aufschreibst.«
Ich musste aufrichtig sein und täglich meine eigenen Gewalttaten aufschreiben. Das bedeutete, dass ich jede Nacht meine Handlungen analysieren musste. Fand ich eine Tat gewalttätig, dann musste sie angemessen eingeordnet werden. Es war eine hervorragende Methode der Selbstreflexion und der Erkenntnis eigener Gewalttätigkeit.
Gandhi betonte die Notwendigkeit, die vielfältigen Formen menschlicher Gewaltanwendung zu begreifen. Abgesehen von physischer Gewalt wie Krieg, Töten, Schlagen, Morde, Vergewaltigung usw., üben wir auf vielfache Weise passive Gewalt aus, sowohl bewusst als auch unbewusst. In Form von Hass, Vorurteilen, Diskriminierung, Unterdrückung, Beschimpfungen, Hänselei, Herabsehen auf die Menschen, Unfreundlichkeit, Klassifizierung von Menschen nach ihrer Religion, ihrem ökonomischen Status, nach ihrem Geschlecht, ihren Gewohnheiten und auf millionenfache andere Weise verletzen wir jemanden durch unsere Tätigkeit oder sogar Untätigkeit. In einer selbstsüchtigen, egozentrischen Welt ignorieren wir die Not anderer; stattdessen überbeanspruchen wir weiterhin die Ressourcen der Welt und schaffen ein ökonomisches Ungleichgewicht.
Das Verhältnis zwischen passiver und physischer Gewaltanwendung ist dasselbe wie das zwischen Öl und Feuer. Handlungen passiver Gewalt rufen Zorn im Opfer hervor, und da das Opfer selbst nie gelernt hat, wie es seinen Zorn in positiver Weise einsetzen kann, missbraucht es ihn, um physische Gewalt zu erzeugen. Passive Gewalt gießt folglich Öl ins Feuer der physischen Gewalt. Das bedeutet, dass wir, wenn wir das Feuer physischer Gewalt löschen wollen, diesem die Ölzufuhr abschneiden müssen.
Gewöhnlich leugnen wir unsere eigene Gewalttätigkeit, weil sie uns nicht bewusst ist beziehungsweise weil wir daran gewöhnt sind, sie nur in ihren physischen Manifestationen, in denen wir körperliche Kraft anwenden, wahrzunehmen. Doch sehen wir sämtliche Formen von Unterdrückung als passive Gewaltformen an.
Das Problem des Zorns
Obwohl Gandhi sich bemühte, Indien aus den imperialen Fängen Britanniens zu befreien, ging es ihm eigentlich darum, die Welt dem Würgegriff der Kultur der Gewalt zu entziehen – einer Kultur, die so tief verwurzelt und durchdringend ist, dass die meisten von uns zu der Überzeugung gelangt sind, Gewalt liege in unserer Natur. Doch diese Meinung ist widersinnig: Wenn Gewalt tatsächlich in unserer Natur läge, warum müssen dann Kampfsporteinrichtungen und Militärakademien uns zu kämpfen und zu töten lehren? Warum sind diese Instinkte nicht angeboren?
In Wirklichkeit ist nicht Gewalt, sondern Zorn unsere wahre Natur, der Gewalt erzeugende Zündstoff. Zorn ist, um eine Analogie aus der Elektrik zu bemühen, die Sicherung, die uns vor einem technischen Defekt warnt. Leider haben wir gelernt, Zorn zu missbrauchen, anstatt ihn intelligent einzusetzen, denn die Kultur der Gewalt basiert auf dem Bedürfnis, durch Angst zu kontrollieren. Kürzlich haben Psychologen festgestellt, dass überall auf der Welt eine unmäßig große Zahl der Gewaltanwendung – über 70 Prozent – auf den Missbrauch von Zorn zurückgeht. Obwohl Zorn als wichtige Emotion eine bedeutende Rolle in unserem Leben spielt, haben wir diese bisher komplett ignoriert.
Gibt es aufgrund unserer Ignoranz nichts, was Menschen gegen den Missbrauch von Zorn tun können? Ich glaube, wir haben den Verstand und die Fähigkeit, unsere Natur kennen zu lernen und zu verbessern. Im Ashram von Sevagram in den späten Vierzigern lehrte Gandhi uns täglich vor allem zwei Dinge: Erstens, die Fähigkeit zu entwickeln, uns selbst immer wieder zu prüfen – in Sokrates' Worten: »Ein ungeprüftes Leben ist nicht lebenswert.« Und zweitens, Zorn zu konstruktivem Nutzen statt destruktivem Missbrauch um zu funktionieren.
Zorn sei wie Elektrizität, sagte er, genauso gewaltig und nützlich, wenn klug eingesetzt, und genauso destruktiv und tödlich, wenn missbraucht. Wie Elektrizität muss die Energie des Zorns sinnvoll kanalisiert werden, um der Menschheit in konstruktiver Weise dienen zu können. Eine Möglichkeit, sich später an eine aggressive Phase zu erinnern, ist, ein »Zorn-Tagebuch« zu schreiben. Ziel sollte allerdings nicht sein, den Zorn aus dem System zu tilgen, sondern eine gute Lösung für das Problem zu finden, das den Ärger verursacht hat. Ein Problem im Keim zu ersticken, erspart viel Kummer.
Die Relevanz von Gewaltlosigkeit für das 21. Jahrhundert
Es ist schwierig, Gandhis Überlegungen in Einklang zu bringen mit modernen Theorien, die Gewaltverzicht mit einer zweckdienlichen Strategie gleichsetzen. In den Worten Gandhis ist »Gewaltlosigkeit kein Mantel, den ich heute anziehe und morgen ablege«. Obschon Gandhi die Notwendigkeit einer geistigen Komponente in der gewaltfreien Praxis betonte, war dies doch nicht der einzige Grund, warum er an Gewaltfreiheit als einen Lebensstil glaubte. Gewaltfrei zu leben war für ihn eine praktische Notwendigkeit. Wenn man Gewaltlosigkeit nicht lebt, kann man sie auch nicht praktizieren. Genauso wie eine umfassende Kultur der Gewalt um uns herum nötig ist, um selbst gewalttätig zu werden, benötigen wir eine Kultur der Gewaltlosigkeit um uns herum, um gewaltfrei zu leben.
Die Vielschichtigkeit von Gandhis Gewaltlosigkeit kann nur in ihrer Gesamtheit und nicht dogmatisch erfasst werden. Es ist bedauerlich, dass die meisten Gelehrten Gewaltlosigkeit nur als das Gegenteil von physischer Gewalt gesehen haben. Wir können die Reichweite von Gewaltlosigkeit nicht abschätzen, wenn wir nicht die Spur wahrnehmen, die Gewalttätigkeit in der heutigen Gesellschaft hinterlässt. So wie die Abwesenheit von Krieg nicht Frieden bedeuten muss, zeigt oberflächliche Ruhe noch lange keine konfliktfreie Gesellschaft an.
Wir errichten überall auf der Welt riesige Stadtkulturen ohne Seele und Substanz. Wir ignorieren die grundlegende Frage: Kann eine Gesellschaft zusammenhalten, Mitgefühl haben und fürsorglich sein, wenn jedem Mitglied beigebracht wird, selbstsüchtig und ichbezogen zu sein? Im Sinne Gandhi stellt die Gesellschaft eine erweiterte Familie dar und sollte folglich dieselben positiven Eigenschaften besitzen – Mitgefühl und Zusammenhalt. Doch nicht nur die materialistische Gesellschaft, die wir erschaffen haben, begünstigt egoistische Sichtweisen, sondern wir selbst fördern sie in unseren Kindern, indem wir ihnen anraten, um jeden Preis erfolgreich zu sein. Passive Gewalt schlummert in jeder Gesellschaft, bis sie untragbar wird und irgendwann als physische Gewalt ausbricht. Nebenbei wird unser Gerechtigkeitsbegriff in Frage gestellt. In einer Welt, die von der Kultur der Gewalt durchdrungen ist, ist Gerechtigkeit ein Mittel zur Rache geworden. Auge um Auge, sagte Gandhi, macht nur die ganze Welt blind. In einer Kultur der Gewaltlosigkeit würde Gerechtigkeit Neugestaltung bedeuten – in Anerkennung, dass Fehler aus Unwissenheit oder unter mildernden Umständen geschehen. Jemanden zu bestrafen, anstatt das Problem zu lösen, verstärkt physische Gewalt in Form von Verbrechen und Gewalttätigkeit.
Die Geschichte vom Seestern erzählt uns eine passende Lehre. Einst ging ein Mann früh am Morgen zum Strand spazieren. Der Morgen dämmerte noch nicht. Im Nebel sah er in der Nähe des Ufers eine Gestalt, die etwas aufhob und ins Wasser warf. Aus Neugier ging er der Sache nach und erfuhr, dass mit der nächtlichen Flut alle Seesterne ans Ufer gespült und mit der aufgehenden Sonne sterben werden. Als der neugierige Mann zum Ufer sah und Tausende von gestrandeten Seesternen erblickte, sagte er: »Du wirst es nicht schaffen, all diese Seesterne zu retten. Ist es dann nicht egal?« Der barmherzige Samariter war immer noch mit den Seesternen beschäftigt und hielt gerade einen in der Hand, den er ins Wasser werfen wollte, als er sich um wandte und sagte: »Diesem Burschen ist es sicher nicht egal.« Die Botschaft ist klar: Wir sollten uns nicht vom Zustand der Welt überwältigen und uns nicht davon abbringen lassen, etwas zu tun, um die Welt zu verändern. Gandhi war immer der Überzeugung, dass die kleinen Veränderungen letzten Endes die entscheidenden sind.
Die Wahl, vor der die Menschheit steht, ist nach Gandhis Worten ziemlich einfach: »Wir selbst müssen den Wandel verkörpern, den wir sehen wollen.« Sofern wir uns persönlich nicht ändern, wird sich auch insgesamt niemand ändern. Seit Generationen warten wir darauf, dass sich zuerst die anderen ändern. Ein Sinneswandel kann nicht gesetzlich erlassen werden, er geschieht aus Überzeugung.
Die Frage, die wir stellen müssen, lautet deshalb nicht, ob Gewaltfreiheit relevant ist, sondern ob wir gewillt sind, uns von Habgier, Selbstsucht und all den unser Leben beherrschenden negativen Eigenschaften abzuwenden, um uns den positiveren Eigenschaften der Liebe, des Mitgefühls, Verständnisses und des Respekts zuzuwenden. Die Wahl müssen wir selbst treffen. Das ist der Kern der Botschaft Gandhis.
Arun Gandhi (*1934), 2004, polylog Forum für interkulturelle Philosophie 5.
Übersetzung aus dem Englischen von Tina Suchanek.