© Sigrid Drechsler – Auf dem Wege nach Europa
Eine französisch-deutsche Freundschaft im Zweiten Weltkrieg
mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des NOTschriften-Verlag
3. Auflage, Erzählung 2002, kartoniert, 118 Seiten
13,5 x 21 cm,
ISBN 978-3-933753-26-7,
€ 8,80
Vorwort
Das Land der Vogesen und das Land des Schwarzwaldes waren wie die zwei aufgeschlagenen Seiten eines Buches, ich sah sie deutlich vor mir, wie der Rhein sie nicht trennte, sondern vereinte, in dem er sie mit einem festen Falz zusammen hielt. Die eine der beiden Seiten wies nach Osten, die andere nach Westen, auf jeder stand der Anfang eines verschiedenen und doch verwandten Liedes, und so war es Europa, das offen vor mir lag. Vom Süden kam der Strom und ging nach Norden, und er sammelte in sich die Wasser aus dem Osten und die Wasser aus dem Westen um sie als einziges Ganzes ins Meer zu tragen.
Rene Schickele 1922
Die Traumgestalt
Vor einigen Jahren noch ist Marcel jeden Tag in die Weinberge hinaufgestiegen. Der Wein gedeiht gut in den Hügeln im Schutze der hohen Berge, die ganz allmählich aus der Rheinebene emporwachsen. Er liebte es über alles, dort oben zu sitzen und zu den teils bewaldeten, teils kahlköpfigen Bergen, den Vogesen, hinüber zu schauen. Er liebte es ebenso sehr, in die andere Richtung über die Rheinebene zum landschaftlichen Spiegelbild, den Bergen des Schwarzwaldes zu blicken. Natürlich war ihm von Kindheit an jeder einzelne der Berge mit Namen bekannt, und es waren nicht wenige, die von seinem Platz aus zu sehen waren. Aber er nannte sie nicht so, er hatte ihnen vor langer Zeit andere, eigene Namen gegeben. Ohne Systematik, einfach so aus Spielerei. Er nannte sie den Langen, den Grünen, den Fröhlichen, den Wackligen. Manchmal sprach er mit ihnen, natürlich nur, wenn er allein war. Die Vogesen betrachtet er als sein Eigentum, er ist Franzose. Aber die deutschen Berge hatten von Kindheit an in seinem Denken, in seinen Sehnsüchten eine große Rolle gespielt. Hinter diesen Bergen lag ein anderes Land, das deutsche Land.
Als echtes Grenzkind war er schon immer neugierig auf das Dahinter gewesen. Vielleicht deshalb, weil diese anderen Berge oft so undeutlich, so verschwommen in der Ferne lagen. Alles dahinten war unbekannt, geheimnisvoll und deshalb von besonderem Reiz für ihn gewesen.
Seit er das 8. Lebensjahrzehnt erreicht hatte, wählte er die Tage für seine Weinbergwanderungen genau aus. Nicht immer wollten die müden Beine die Anstrengung der Steigung hinnehmen. Er wählte daher die Tage, die für ihn die schönsten waren. Das mussten nicht unbedingt die sonnigsten oder klarsten sein. Am liebsten weilte er dort oben bei diesigem, verhangenem Himmel, wenn die Berge in der Ferne flimmerten, ihre Konturen verloren und das weiche Licht ihn zwang, die Augen zu schließen.
Der Grund für seine Sympathie zu den trüben Tagen war ein Traum. Er wusste nicht mehr, wann ihm dieser Traum das erste Mal gekommen war, vor Wochen, Monaten oder schon vor längerer Zeit?
Nicht sofort, aber nach einiger Zeit des Sitzens, wenn ihn die leise Müdigkeit der Nachmittagsstunde überkam und sich die Augen in der fließenden Luft von allein schlossen, war er da, dieser Traum, dieser beunruhigende, wunderbare Traum. Manchmal, und das geschah immer häufiger, mogelte er ein bisschen. Er w o l l t e diesen Traum träumen. Er redete sich ein, zu träumen, wusste aber eigentlich ganz genau, dass er hellwach war. Aber das war schon unwichtig. Irgendwann hatte er ihn wirklich geträumt und seither war sein ganzes Denken so von diesem Traum erfüllt, dass er sich nicht einmal vor sich selbst rechtfertigen wollte. Traum oder Tagtraum, was machte das schon?
Wichtig allein war, dass es immer der gleiche Traum war.
Er schloss die Augen und wartete. Nach geraumer Zeit sah er über den Grat der fernen Berge einen Mann kommen. Anfangs war der Kommende undeutlich fern und sehr klein, einfach ein wandernder Mann. Je näher er kam, umso klarer konnte er die Haltung des Mannes, seinen Habitus und schließlich seine Gesichtszüge erkennen. Der Mann war mittelgroß, hielt sich sehr gerade und kam direkt auf ihn zu. Eigentlich lag zwischen Marcel und den Bergen der breite Fluss Rhein mit seinen ausgedehnten, weiten Auen. Täler, Schluchten und Bachläufe waren zu überqueren, aber sie schienen für den Wandernden kein Hindernis zu sein. Er schwebte auch nicht etwa über der Erde, sondern ging sicher Schritt für Schritt auf sein erkorenes Ziel, den träumenden Marcel auf der Bank in den Weinbergen zu.
Selbst im Traum wunderte sich Marcel über die erdverbundenen festen Schritte des Mannes. Es schien, als wolle der Mann damit seine Lebenseinstellung kundtun. Etwa in diesem Sinne: Wenn ich es richtig finde, hier zu gehen, werde ich es tun, ob es die anderen erstaunt oder nicht.
Er mochte vielleicht 50 Jahre alt sein. Gekleidet war der Fremde wie ein elsässischer Weinbauer. Er trug das übliche Hemd von unbeschreiblicher Farbe zwischen braun-grau und grün, ein wenig zerknittert und bis zum dritten Knopf von oben offen. Um den Hals hatte er ein buntes Tuch geschlungen, was ihm eine jugendliche Fröhlichkeit verlieh. Die Hose schien vor langer Zeit zu besseren Anlässen getragen worden sein, seine Füße steckten in derben Lederschuhen. Beim Laufen schwangen die Arme des Wandernden im gleichmäßigen Takt, denn er ging zügigen Schrittes, ohne aber in Eile zu sein. Keinerlei Gepäckstück behinderte ihn. Da er barhäuptig war, hatte der Wind sein Haar zurückgeworfen und man konnte sehen, dass es dunkel war.
Als der Mann so dicht herangekommen war, dass man seine Gesichtszüge erkennen konnte, sprang der Traum-Marcel von seiner Bank auf und wollte dem Kommenden, den er erkannt hatte, die Hände reichen. Auch der andere streckte ihm seine leicht erhobenen Hände entgegen und lächelte ihn an. Lächeln war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Dieser Mann schaute ihn fröhlich an, vergnügt, wie jemanden, von dem man weiß, dass man ihn hier treffen wird. In seinen Augen lag so ein verschmitzter Ausdruck, als wollte er sagen: „Hallo, Marcel, das haben wir doch bestens hin bekommen!“
Jedes Mal, wenn der Traum - geträumt oder gedacht - diesen Punkt erreicht hatte, und der Augenblick gekommen war, da er den Händedruck spüren müsste, griff Marcel ins Leere und wachte auf.
Das Merkwürdigste an diesem Traum aber war, dass er diesen Mann s o niemals gesehen hatte: niemals in Freizeitkleidung, niemals fünfzigjährig, niemals lächelnd, niemals an diesem Ort.
Ihrer beider Begegnung vor 55 Jahren stand unter ganz anderen Zeichen: Der Mann trug damals die Uniform der deutschen Wehrmacht und der Ort ihrer Begegnung war ein Kriegsgefangenenlager irgendwo in Deutschland.
Marcel öffnet die Augen und schaut zu den Bergen hinüber, aber keines Menschen Spur ist zu erkennen. Marcel meint, dass er den Mann heute besonders deutlich gesehen hatte. Lebt er noch? Nur wenige Jahre älter als er selbst war er gewesen. Warum soll er nicht mehr leben, er, Marcel, lebt doch auch. Und abgesehen von den müden Beinen geht es ihm doch noch recht gut. Der Wein schmeckt wie immer, das Essen auch und die Fröhlichkeit und Verschmitztheit seiner Jugendtage leuchten noch immer aus seinen blauen Augen. Seine geistige Verfassung ist erstklassig, das weiß er genau, und dass er sich mit fortschreitendem Alter immer öfter an ferne Tage erinnert, ist ganz normal.
Die Gedanken an die Vergangenheit hatten sich unbemerkt eingeschlichen, seit er allein war. Vor zwei Jahren war seine Frau Anne gestorben. Solange die Tage mit den Sorgen des Alltags ausgefüllt waren, die Pflege der erkrankten Partnerin seine Stunden beanspruchte, war keine Zeit zum Träumen gewesen. Aber seit einiger Zeit dachte er immer öfter zurück. Die Erinnerung forderte ihn, erfreute ihn, quälte ihn. Und so kam es, dass er an diesem ruhigen Sommertag auf seiner Traumbank in den elsässischen Weinbergen einen Ent-schluss fasste. „Ich werde dich suchen, deutscher Freund. Wenn andere den schrecklichen Krieg überstanden haben, warum solltest gerade du nicht mehr am Leben sein?“
Dieser Entschluss kam nicht so ganz zufällig. Er hatte mit der Entwicklung der politischen Verhältnisse in Europa zu tun. Die Mauer in Berlin, das unüberwindbare Hindernis zwischen Ost und West, war gefallen, Deutschland nicht mehr in zwei Staaten geteilt. Zu früherer Zeit hätte Marcel eine solche Suche für aussichtslos gehalten, denn der Ort der Begegnung lag östlich der Grenze.
Die Medien hatten besonders in den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung viel über die kommunistischen Systeme berichtet. Ab und an war auch der Name Mühlberg gefallen. Marcel hatte bis dahin diesen Abschnitt seines Lebens für beendet gehalten. Er wollte nicht erinnert werden an diese Zeit, an den Krieg, an die Gefangenschaft. Aber leise, unmerklich und stetig drängten durch die Nachrichten in den Medien die damaligen Erlebnisse aus dem Unterbewusstsein in seine Tage und ließen ihn wider Willen bruchstückhaft das Vergangene nochmals durchleben.
Der Brief
Entschlossen, fast jugendlich erhebt sich Marcel von seiner Bank und eilt talwärts. Er hat einen Entschluss gefasst. Noch heute wird er einen Brief an eine kommunale Verwaltung in Deutschland schreiben und den Freund suchen lassen.
„Das hätte ich längst tun sollen“, rügt er sich selbst.
Auf dem Heimweg muss er den Marktplatz überqueren. Den fröhlichen Marktplatz einer elsässischen Stadt, der umrahmt von schönen Fachwerkhäusern mit dem prächtigen Renaissance-Rathaus in ihrer Mitte nicht nur die Fremden zum Verweilen einlädt. Vor dem Gasthaus Cydne hocken in der warmen Spätnachmittagsstunde die Alten des Städtchens beim Kaffeeplausch. Marcel pflegt die anderen heimlich „Tagediebe“ zu nennen. Er setzt sich selten zu ihnen. Aber manchmal braucht auch er ein wenig Gesellschaft, ein paar gute Gespräche, die durchaus dort zu haben sind. Schon oft hatten sie über die gegenwärtige politische Lage, die Verhältnisse in den anderen Ländern und besonders gern über die „Europäische Union“ diskutiert. Natürlich gingen auch hier wie überall in der Welt die Meinungen auseinander. Für ein geeintes Europa aber gab es in der Runde der Elsässer fast einhellige Zustimmung. „Wir sind schon immer ‚Europäer‘ gewesen“, sagen sie, und sie haben damit wohl nicht so Unrecht.
Marcels Meinung und seine eigene Art, die Dinge darzustellen, wurden gern gehört, denn er beschäftigte sich mehr als jeder andere mit politischen Themen.
Heute aber hat er keine Zeit.
Pierre hatte ihn kommen sehen und schon einen Gartenstuhl vom Nachbartisch herübergezogen. Mit freundlicher Geste lud er ihn zum Platznehmen ein.
‚Wäre ich nur den Umweg gegangen‘, denkt Marcel ärgerlich über sich selbst. Er möchte die anderen nicht enttäuschen, ist aber in einer solchen Spannung, dass er keine Minute versäumen mag. Er muss seinen Entschluss in die Tat umsetzen, er muss der inneren Stimme folgen und in dieser Stunde seinen Brief schreiben. Die Faszination dieses Entschlusses ist so stark, dass er nicht mit den anderen darüber sprechen mag, nicht jetzt.
„He, Marcel, setz dich zu uns und erzähl uns was“, rufen sie ihm zu. „Du weißt doch immer solch nette Geschichten!“
„Keine Zeit, habe Wichtigeres zu tun“, knurrt er im Laufen nicht innehaltend. Die anderen schütteln den Kopf.
„Unser Marcel sieht immer so aus, als müsste er gerade die Welt verändern! Das kommt auch morgen noch zurecht! Geh’ schon her!“
Marcel winkt ab. Kein Thema, heute nicht. Er nickt der Runde freundlich zu und setzt seinen Weg fort. Ohne weiteren Aufenthalt erreicht er seine Wohnung. Nach Annes Tod ist er wieder zurück in das Elsass gegangen, in das Land seiner Kindheit. Er ist lange fortgewesen. Eine kleine Wohnung in der Nähe des Marktes und doch im Grünen gefiel ihm besonders gut, und er richtete sich nach seinen Vorstellungen freundlich dort ein. Sein wichtigstes Möbelstück ist der große alte Schreibtisch, den er so gestellt hat, dass er beim Aufschauen einige Gipfel der Vogesen sehen kann.
Er ist wirklich sehr in Eile, das heißt, er meint in Eile zu sein. Vor dem Briefschreiben müssen noch ein paar unerlässliche Dinge getan werden. Auf dem Heimweg hatte er sich die Reihenfolge der nötigen Handgriffe schon ausgemalt.
Zunächst steigt er in den Keller hinab, in den Weinkeller, der in keinem elsässischen Hause fehlt. In der hintersten Reihe des Weinregals tastet er nach einer staubigen Flasche seines Lieblingsweines, des fünf Jahre alten Grauburgunders, der nach feststehenden Ritualen nur an Festtagen getrunken werden darf.
Heute ist ein Festtag.
Vorsichtig, fast zärtlich, nimmt er die dunkle Flasche heraus, säubert sie und legt sie in einen kleinen Korb, der immer dort bereit steht. Unverantwortlich wäre es, den edlen Tropfen in den bloßen Händen hinaufzutragen!
Bevor er die Flasche auf seinen Schreibtisch stellt, hält er sie gegen das Licht und liest das Etikett, welches er doch gut kennt. Dann öffnet er die Vitrine und wählt ein Glas, das seiner Meinung nach dem Weine würdig ist. In Gedanken fragt er Anne, ob sie seine Wahl gutheißt, denn solche Entscheidungen hatte immer sie getroffen. Das Glas wird sorgfältig mit einem sauberen Leinentuch geputzt und Weinflasche, Korkenzieher und Glas auf ein kleines Tablett gestellt. Irgend etwas scheint nicht zu stimmen, nachdenklich schaut er auf das Tablett, nimmt noch einmal alles herunter und legt eine Serviette darauf.
„Anne würde sich über meine Sorgfalt freuen“, denkt er stolz, denn als sie noch lebte, hatte er über solche „Weiberveranstaltungen“ immer gespottet.
Aus dem Bücherschrank holt er den Atlas Europas, zwei französische und ein deutsches Reiselexikon. Briefpapier und Schreibgerät liegen immer bereit, so dass die Arbeit beginnen kann.
Mit ein wenig Anstrengung öffnet er die Flasche, schenkt ein, erst ein wenig, zum Kosten, wie sich das bei so einem großartigen Wein gehört. Dann gießt er das Glas zu zwei Drittel voll und setzt sich endlich an seinen Schreibtisch. Plötzlich stört ihn die übliche, allen Schreibtischen eigene Unordnung, deren er sich gern vor den Kindern rühmt. Mit einem Anflug von Unduldsamkeit fegt er die Zeitungen, Werbeschriften, alten bis uralten Briefe, Reklameschriften und wertlosen Mitteilungen auf die danebenstehende Couch.
Er hebt sein Glas gegen das hereinflutende Licht des Abends, freut sich an der Farbe und dem Duft des Weines mit der Lust des Kenners und trinkt den ersten Schluck. Behutsam stellt er das Glas zurück und schlägt den Atlas auf. Deutschland! Sein Zeigefinger tastet sich vom Norden, die Mündung des Elbstromes markierend, vorwärts. Flussaufwärts folgt er dem Lauf des Stromes bis zu einer Stelle, an der vor vielen Jahren von seiner Hand ein kleines Kreuzchen gesetzt worden war. Hier etwa müsste der gesuchte Ort liegen:
Mühlberg an der Elbe. Den Atlasmachern war diese Ortschaft zu klein und bedeutungslos gewesen. Für Marcel war es der wichtigste deutsche Ort.
Einem geheimen Ritual folgend schlägt er nacheinander die Reiseführer auf, zuerst die beiden französischen, obwohl er genau weiß, dass es einen Ort solchen Namens in keinem von beiden gibt. Der deutsche Reiseführer aber, den er sich nur um dieses Ortes willen einmal in Deutschland gekauft hatte, nennt diese kleine Stadt. Aber obwohl Marcel wieder genau weiß, dass er sich ärgern wird, weil nichts von den Ereignissen, über die er zu lesen wünscht, in diesem Büchlein zu lesen ist, tastet er schnell blätternd und die Seiten überschlagend zur gesuchten Stelle. Dort steht:
Mühlberg - Stadt im Bezirk Cottbus in der Elbeniederung,
3500 Einwohner, ehemaliges Zisterzienserinnenkloster mit Kirche, Schloss, 16.Jh. In der Schlacht bei Mühlberg siegte 1547 Kaiser Karl V. über den Schmalkaldischen Bund. Friedrich Johann von Sachsen wurde gefangen genommen.
‚Immerhin‘, denkt Marcel, ganz Franzose, ‚die Zisterzienserklöster sind in Frankreich gegründet worden. Die Schlachten haben die Deutschen natürlich registriert‘, denkt er weiter, ‚von jüngeren traurigen Ereignissen an diesem Ort weiß auch der deutsche Reiseführer nichts! Dabei müsste alles, was seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges dort geschah, laut in alle Welt hinausgeschrien werden!‘
Aber sie schweigen, die deutschen Reiseführer genau wie die französischen. In der Spannung dieser Stunde gibt Marcel den Reisebuchautoren eine Chance. Er schaut nach dem Erscheinungsjahr, als hätte er dem Herausgeber Unrecht getan, als könnte dieser über die jüngsten Mühlberger Ereignisse noch gar nichts wissen. Erscheinungsjahr 1965. „Eigentlich sollte ich den Verlag auf diese Unzulänglichkeit aufmerksam machen“, denkt er noch, schiebt alle unzuverlässigen Informanten energisch zur Seite und beginnt zu schreiben. Seine Anschrift setzt er in die linke obere Ecke und schon zögert er, weil er noch gar nicht darüber nachgedacht hat, in welcher Sprache er schreiben will. Wie fast jeder Elsässer spricht er deutsch, vielleicht sogar weit besser als viele seiner Landsleute, denn er hatte keine Stunde versäumt, die deutsche Sprache zu erlernen. Und Gelegenheiten hatte er viele gehabt!
„Nein, das muss einwandfrei sein“, entscheidet er, „ich werde Annette um die Übersetzung bitten, sie hat schließlich Germanistik studiert und nicht nur die Sprache gelernt wie ich!“
Unter den Absender kommt die Anschrift.
An den Bürgermeister der Stadt Mühlberg an der Elbe.
Schon wieder stockt die schreibende Hand. 3500 Einwohner? Hat dieser Ort einen Bürgermeister? Das Kriegsgefangenenlager befand sich nicht in der Stadt, sondern gut fünf Kilometer von ihr entfernt. An das Gesicht des Städtchens kann er sich überhaupt nicht erinnern, weiß nicht einmal mehr, ob er jemals dort gewesen ist. Atlas und Reiseführer ist dieser Ort keiner Erwähnung wert, der Brief wird verloren gehen.
„Nein“, entscheidet Marcel, „das ist keine brauchbare Adresse“, und schon wandert sein Zeigefinger flussaufwärts, also atlasabwärts, bis er den Namen Dresden gefunden hat. Diese Stadt ist überall bekannt: im Atlas Europas, in den französischen und in den deutschen Reiseführern. Ausführlich wird sie geschildert.
Marcel erinnert sich, dass er des öfteren in dieser Stadt gewesen ist, aber eigentlich kennt er sie überhaupt nicht. Er sah sie immer nur von weitem, von einer Brücke aus, über die er in einem Eisenbahnzug oder in einem Militärauto zum Krankenhaus fahren musste. Aber an die Silhouette dieser Stadt kann er sich noch sehr gut erinnern. Sie schien ihm damals ungemein schön und vollendet. Turm reihte sich an Turm, Brücke an Brücke, und dahinter erstreckten sich sanfte Hügel, die Stadt einrahmend und schützend. Es schien ihm, als läge diese Stadt außerhalb des Krieges, als wäre sie vom Krieg völlig unberührt. Er steigerte sich derartig in diese Vorstellung hinein, dass er sich einreden konnte, die Menschen dort würden ihn beim Hineinkommen erstaunt fragen: „Woher kommen Sie, wo ist Krieg?“ Vor dieser heilen Silhouette wurde die schreckliche Gegenwart zur Unwirklichkeit.
Marcel hatte damals natürlich gewusst, dass diese friedliche Stadt eine Wunschvorstellung war. Aber der Gedanke war in diesen Tagen ein Trost für ihn gewesen, eine Zuversicht, die er auf die ersehnte Unversehrtheit der heimatlichen Städte anwenden konnte.
In Wirklichkeit aber war die Stadt Dresden im zweiten Kriegsjahr tatsächlich noch eine völlig heile Stadt, keine feindliche Bombe hatte ihr bis dahin etwas angetan. So abseits vom Kriegsgeschehen, wie sie Marcel sich vorstellte, wenn er von der Brücke hinüberschaute, war sie natürlich auch damals nicht. Hätte er hineingehen können, hätte er die Spuren des Krieges auch dort finden können, in den Lazaretten, den Luftschutzkellern, den geschlossenen Museen, den Todesanzeigen „Gefallen fürs Vaterland.“ Damals hatte er sich vorgenommen, dass er eines Tages in diese Stadt hineingehen wolle. Wenn der Krieg vorüber wäre!
Getan hat er es nicht, denn auch Dresden konnte der Zerstörung nicht entgehen. Er konnte nicht hineingehen in eine Stadt, die es nicht mehr gab, nicht mehr so gab, wie er sie von Ferne gesehen hatte.
Wenn sie vom Krankenhaus kommend abends in der Dunkelheit über die Brücke zurückfuhren, war die Stadt völlig verschwunden. Kein einziges Licht wies auf ihre Existenz hin. Die Stadt hatte sich selber in undurchdringliche Nacht begeben. So sehr er seine Augen auch anstrengte, nichts, nicht der winzigste Lichtstrahl, deutete darauf hin, dass in Wirklichkeit hinter der Brücke Häuser, Straßen, Kirchen, Bäume und Menschen waren. Vor der Zerstörung hat die Verdunklungspflicht sie nicht bewahren können, die Piloten fanden ihr Ziel ohne den Schein der Lichter.
Traurig schaute Marcel in das schwarze Nichts hinein, in dem wenige Stunden zuvor noch sein Vineta gelegen hatte. Noch heute, nach über 50 Jahren, entsteht es vor seinen Augen, wenn er an die Zerstörung Dresdens erinnert wird.
Auch die Reiseführer berichten ausführlich über den Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945, über die Anzahl der Toten, der Bomben, der bombenwerfenden Flugzeuge, der geplanten grausamen Maschinerie der Vernichtung. Später hatte Marcel viele Fotos von der entsetzlichen Trümmerlandschaft gesehen. Aber für ihn waren die Trümmer noch Leben, tot war die schwarze Leere, die ihn damals so erschüttert hatte.
Marcel hatte sein Glas wiederholt gefüllt und geleert und erschrocken stellte er fest, dass er mit seinen Gedanken weit abgeschweift war. Oder doch nicht? Er wird nach Dresden schreiben. Dort sind die Verwaltungen, dort werden die Meldekarteien geführt, nur dort besteht die Chance, Auskunft zu bekommen über einen Mann, dem er vor 55 Jahren begegnet war. Er erinnerte sich auch, dass der Gesuchte vor ihrer Begegnung in Dresden gelebt hatte.
An den Bürgermeister der Stadt Dresden, schreibt er.
Rathaus
Dresden, Deutschland
Er hält die Anschrift für ausreichend und ist überzeugt, dass jeder Briefträger den Adressaten finden wird.
Sehr geehrter Herr Bürgermeister der Stadt Dresden,
ich bitte Sie mir behilflich zu sein bei der Suche nach einem Mann, dessen Name mir entfallen ist. Ich war 1941 Kriegsgefangener im Stalag IV B Mühlberg und als Sekretär und Dolmetscher des Hauptstabsarztes eingesetzt. Dieser Arzt war weder machtbesessen, noch arrogant, noch rachsüchtig - und kein Nazi! Wahrscheinlich verdanke ich ihm mein Leben, denn bevor er an die Ostfront abkommandiert wurde, mogelte er meinen Namen auf die Liste eines Krankentransportes Richtung Frankreich.
Der Nachfolger dieses Arztes war ein böser und fanatischer Mensch und wollte mich in die preußischen Salzbergwerke deportieren lassen.
Ich möchte mich heute bei dem Arzt oder seinen Angehörigen dafür bedanken.
Mir ist nur bekannt, dass dieser Arzt vor dem Krieg in Dresden praktiziert hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe,
mit freundlichen Grüßen Marcel S.
Marcel ist mit seinem Brief zufrieden. Ein wenig macht sich der Wein in seinen Gliedern bemerkbar, und er stellt wieder einmal fest, dass sein Lieblingswein ein hervorragender Tropfen ist. Energisch schiebt er die Flasche zur Seite, seine Arbeit ist noch nicht beendet. Er schaut auf die Uhr und weiß, dass Annette jetzt von der Arbeit zurück sein müsste. Dummerweise muss er wieder über den Marktplatz gehen. Die nachmittäglichen Schwätzer sitzen freilich noch dort. Marcel, der sich kurz vorher noch selbst an der veredelten Rebe gelabt hatte, knurrt „Tagediebe“ und geht geraden Weges zur Wohnung seiner Tochter.
„Hallo, Papa, das ist aber eine Überraschung, dich heute, und wie mir scheint, so zufrieden und fröhlich zu sehen. Geht es dir gut?“
„Mir geht es gut, aber ich habe eine dringende Bitte. Könntest du mir ganz schnell diesen Brief in gutes Deutsch übertragen? Es ist ganz wichtig, er muss noch heute zur Post!“
Annette schaut auf den Zettel, den der Vater ihr reicht und lächelt. „So wichtig scheint es nun auch nicht zu sein, wenn du mehr als fünfzig Jahre damit warten konntest“, spottet sie. „Aber im Ernst, Vater, was hast du dir da wieder ausgedacht? Wie soll in so einer großen Stadt ein namenloser Mann gefunden werden? Ganz sicher wird er nicht mehr praktizieren. Vielleicht lebt er nicht mehr, vielleicht ist er im Krieg gefallen. Vielleicht ist er an einen anderen Ort gezogen ...“
„... und vielleicht lebt er noch und wundert sich über mein Schweigen. Bitte, Mädchen, übersetze es schnell, oder willst du, dass ich den Brief in meinem Umgangsdeutsch abschicke?“
Annette schaut ihren Vater an und sie kennt den Ausdruck in seinem Gesicht. Die blauen Augen sind plötzlich ganz groß und hell, und sie weiß, dass er in solchen Minuten unbelehrbar ist.
„Du alter Kindskopf“, sagt sie, aber schon nimmt sie ihm den Bleistift aus der Hand, den er bereit hält und erfüllt seinen Wunsch.
„Aber weine mir nicht die Ohren voll, wenn du keine Antwort bekommst!“
„Du kennst die Deutschen schlecht. Sie sind Weltmeister im Registrieren, Katalogisieren und Buchführen. Sie werden bestimmt antworten. Es wird dauern, ja, und vielleicht wird es eine ablehnende Antwort sein. Aber antworten werden sie!“
Davon ist Marcel fest überzeugt. Er geht wieder über den Marktplatz, aber die Gaststätte ist nun verwaist. Darüber ist er froh, denn sicher hätten sie wissen wollen, wem er geschrieben hat. Er wirft den Brief in den Postkasten, und da niemand in der Nähe ist, der ihn beobachten könnte, gibt er ihm eine kleine Beschwörung mit auf den Weg.
An den nächsten beiden Tagen regnete es und Marcel hatte keine Lust, in die Weinberge zu gehen. Aber am dritten Tage flimmerte das diffuse Licht, das er so liebte. Er verzichtete auf die Mittagsruhe, stieg hinauf in den Weinberg und eilte zu seiner Traumbank. Er war neugierig, ob der Brief in seinem Traum vorkommen würde. Vielleicht würde der deutsche Freund ihn anlächeln und sagen: „Endlich hast du begriffen, es hat lange gedauert!“ Oder er würde den Brief in der Hand halten und schon von weitem winken. Alles war denkbar, und Marcel überließ die Fortführung der Geschichte seinen träumenden Sinnen.
Er wurde enttäuscht. Es ließ sich weder ein Traum noch ein Tagtraum herbeizaubern, der Freund blieb unsichtbar. Er blieb unsichtbar in all den folgenden Tagen, da Marcel auf der Bank saß und auf den Traum wartete. Der Traum schien für immer ausgeträumt.
„Vielleicht“, tröstete er sich, „war das der Sinn des Traumes. Da ihm die Tat gefolgt ist, wurde sein Zweck erfüllt. Er ist nicht mehr vonnöten. Ich will geduldig warten!“
Rückbesinnung
Da aber die Zeit des Wartens ausgefüllt werden musste, begannen Marcels Gedanken zurückzuwandern in die Kindheit und Jugend. Er versuchte sein Verhältnis zu den Nachbarn hinter den schwarzen Bergen in den verschiedensten Etappen seines Lebens nachzuerleben, sich zu erinnern an gute und böse Tage.
Das erste Erlebnis war ihm nicht aus eigener Erinnerung, sondern aus den allzu oft wiederholten Erzählungen seines Vaters bekannt.
Er muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als er ein Bilderbuch geschenkt bekam, in dem die bunten Gestalten der verschiedenen Stämme des europäischen Kontinents grauer Vorzeiten dargestellt waren. Es war ganz hübsch gemacht, zeigte die Stämme bei verschiedenen Arbeiten, im täglichen Leben, in ihrer Kleidung und bei ihren Festen. Kelten, Alemannen, Franken, verschiedene andere slawische und germanische Stämme, Bajuwaren und nicht zuletzt die Römer füllten Blatt für Blatt und beflügelten die Phantasie eines Fünfjährigen.
Der Vater zeigte ihm im Atlas die einstigen Wohnplätze der Stämme, so weit er sie selbst kannte, überforderte damit jedoch die Vorstellungskraft seines Sohnes. Nach den Bewohnern hinter den Bergen des Schwarzwaldes befragt aber nannte er die Germanen. Die Germanen sahen im Kinderbuch recht furchterregend, aber gerade deshalb faszinierend aus. Es waren sehr große, blonde, in Felle gekleidete Menschen mit langen Haaren. Sie trugen Lanzen, Spieße und Hirschfänger und schauten grimmig drein. Stets schienen sie mit der Jagd oder mit Kriegszügen beschäftigt zu sein. Es war beängstigend für den kleinen Marcel, dass nicht weit entfernt von seinem Zuhause ein solch kriegerisches Volk leben sollte. Als daher eines Tages der Vater fragte: „Wollen wir die Germanen besuchen?“, geriet er in schreckliche Aufregung. Er wollte schon, aber er fürchtete sich sehr. Die Neugier siegte, und an des Vaters Hand stieg er in die Eisenbahn. Da in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das Elsass zu Deutschland gehörte, verlief die Fahrt ohne sichtbare Veränderungen für große gespannte Kinderaugen.
Die Überquerung des breiten Rheinstromes glich schon einem Abenteuer, doch bald erreichten sie eine kleine Stadt, die der Heimatstadt sehr ähnlich war. Sie schlenderten durch Straßen und kleine Gassen mit ebenso fröhlichen Fachwerkhäusern wie jenseits des Rheines, und auch die Geranientöpfe in den Fenstern und die kleinen Gärten vor den Häusern unterschieden sich kaum von den ihren.
Wie daheim hatten sie in einem Wirtshaus am Marktplatz gesessen und gevespert. Der Vater war auch in ein paar Lädchen hineingegangen, und dabei war Marcel aufgefallen, dass die Menschen anders sprachen als zu Hause. Manches konnte er verstehen, manches nicht. Die Bilderbuchgermanen hatte er noch nicht entdecken können, doch vertraute er dem Vater. Als dieser bald darauf fragte: „Wie gefallen dir nun die Germanen, auf die du so neugierig warst?“, sieht er seinen Vater sehr verwundert an und erwidert: „Aber Vater, bis jetzt habe ich nur Elsässer gesehen, die komisch sprechen!“
Der Vater hatte herzlich gelacht und die Geschichte zu Marcels Leidwesen immer wieder erzählt.
Dabei hatte Marcel so unrecht nicht. Wie könnte man die rechts und links des Rheines Wohnenden unterscheiden? Vor langer Zeit war es e i n großes Land gewesen, ein vorweggenommenes Europa. Aber die Nachfahren Karls des Großen zerstückelten es, trennten und teilten die eroberten Lande, vereinten und teilten sie wieder. Das mittelste Blatt dieses aufgeschlagenen Buches Europa war das Elsass. Es wurde hin- und hergeblättert, hin und her. Die Nachbarn zu beiden Seiten erhoben Anspruch, begehrten es, überzogen es immer wieder mit Krieg. Eigentlich ist es ein kleines Land, schön ist es, fruchtbar auch. Warum es immer wieder zum Zankapfel werden musste, konnten seine Bewohner nicht verstehen. Sie mussten das rechtsrheinische Lied ebenso erlernen wie das linksrheinische, und sie erlernten beide. Sie lernten beide gut, denn es floss in ihren Adern das Blut der vielen gemeinsamen Vorfahren, der Kelten, der Alemannen, der Burgunder, der Slawen, der Bajuwaren, der Römer. Sie alle waren einst wandernd, kämpfend, auch friedlich in die Rheinauen gekommen, waren geblieben, hatten sich vermehrt, vermischt, geschlagen und vertragen. Und wer wollte herausfinden, wer mehr von dem einen oder anderen alten Stamm in sich aufgesogen hatte? Vielleicht floss linksrheinisch ein wenig mehr römisches, romanisches Blut, vielleicht rechtsrheinisch ein wenig mehr alemannisches, germanisches. Aber ihre gemeinsamen Wurzeln konnten sie nicht verleugnen, und sie wollten es auch nicht. Doch wollten sie nicht mehr hin- und hergeblättert werden, sie wollten keine kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrem Land, um ihr Land, mehr dulden, sie wollten einfach Europäer sein.
Das konnte der kleine Marcel natürlich nicht wissen, aber er hatte bei seinem ersten Besuch auf der anderen Seite des Rheines instinktiv erfasst, dass es links und rechts des großen Flusses die gleichen Menschen waren.
Marcels Großvater pflegte, wenn er gut gelaunt war, damit zu prahlen, dass er während seines Lebens viermal die Staatszugehörigkeit gewechselt hatte. Als er 1869 geboren wurde, gehörte das Elsass zu Frankreich. Es war am Ende des 30-jährigen Krieges, im Westfälischen Frieden 1648 zu Frankreich gekommen, welches damals in Europa eine herrschende Machtstellung innehatte. Aber der deutsche Nachbar erstarkte mehr und mehr, strebte eine Einigung der einzelnen Länder an und schielte bedrohlich nach dem Elsass. Wie so oft in der Geschichte bedurfte es nur eines winzigen, unbedeutenden Anstoßes, um den Krieg auszulösen. Er tobte bei Wörth, er tobte um Straßburg, er tobte um Sedan. Noch bevor er 1871 mit der Besetzung von Paris entschieden war, erschien eine Landkarte, die mit einer grünen Umrandung das Elsass als preußisches Generalgouvernement auswies. Und so kam es dann auch bei der Aushandlung des Waffenstillstandes. Die Elsässer waren nicht nach ihrem Willen befragt worden. Der Sieger fragte nicht. Sieger haben zu keiner Zeit gefragt.
Marcels Großvater wurde deutscher Staatsbürger und blieb es bis 1919. Seine Eltern mochten ihren Weinberg nicht verlassen, und wenn sie um ihrer Heimatliebe willen preußische Untertanen werden mussten, dann musste es eben sein. Andere verließen das Land, zu zigtausenden wanderten sie aus, weiter nach Westen, ins Innere Frankreichs hinein. Die Gebliebenen empörten sich. Den Protestbewegungen schloss sich auch des Großvaters Vater an, aber es half nichts. Er musste die deutsche Sprache erlernen, ob er wollte oder nicht, ob es ihm schwer fiel oder nicht. Marcels Großvater hatte es ein wenig leichter, er wuchs zweisprachig auf. Dennoch war es eine unruhige Jugend, die er durchlebte, denn das Herz und die Liebe seiner Vorfahren gehörten Frankreich. Der deutsche Staat hatte es schwer mit den neuen Untertanen, zeitweise konnte er sich nur durch Diktatur behaupten. Seit 1879 errangen sie ihre Selbstverwaltung, denn sie waren nicht bereit, auf sich selbst zu verzichten. Aber in den Jahren, in 40 langen Jahren, gewöhnten sich die Menschen an den anderen Herrn. Es war eine schwierige Entwicklung, aber die elsässische Seele war offen nach beiden Seiten, und allmählich hatten sich auch verwandtschaftliche Beziehungen über den Rhein hinweg ergeben. Man richtete sich ein, versuchte 1911 den besonderen Status des Elsass in einem Landtag festzuschreiben. Zwar erinnerten sich die Alten oft schwärmerisch und schmerzlich an die Zeiten, da sie stolze französische Republikaner waren, aber die Jungen kannten das Hochgefühl schon nicht mehr. An eine Änderung glaubten oder dachten nur noch wenige. Niemand wollte um den Preis eines schrecklichen Krieges wieder französischer Staatsbürger werden.
Aber der Krieg kam.
Das Elsass geriet in eine schreckliche Lage. Die Mobilmachung zur deutschen Wehrmacht stellte jeden vor die Frage, auf welcher Seite er nun stehe. Der Riss ging durch viele Familien, und wenn es ganz schlimm kam, betraf es Brüder. Der eine steckte in der deutschen Uniform, der andere trug die Kokarde der Französischen Republik. Viele Männer flüchteten nach Frankreich, aber die meisten Elsässer entschieden sich zur inneren Neutralität. Eigentlich waren sie nicht deutschfeindlich, aber misstrauisch waren sie schon. Vielleicht erinnerten sich manche auch an die französische Armee, in der ihre Väter gedient hatten, und riefen leise „Vive la France“. Beide kriegführenden Staaten argwöhnten die Elsässer auf der Seite des Gegners, belauerten sie, misstrauten ihnen. Die durchziehenden oder stationierten deutschen Soldaten wurden ebenso bewirtet wie die französischen. Die Deutschen fürchteten sich vor Giften, wohlwissend, dass das Herz der Elsässer für Frankreich schlug. Nichts dergleichen geschah. Die Franzosen erwarteten mehr Begeisterung. Manchmal verdächtigten sie die Bürger, deutsche Soldaten zu verbergen. Nichts dergleichen geschah.
Ein wenig Glück hatten die Elsässer in allem Unglück. Ihr Land blieb weitgehend von Kampfhandlungen verschont. Der Krieg tobte weiter im Norden.
Eines Tages war eine Tante Marcels aus der Gegend um Metz zu Besuch gekommen. Ihr gehörte, ein wenig abseits vom Dorf gelegen, ein kleiner Bauernhof. Sie sagte zu Marcel:
„Du willst doch immer wissen, wie die richtigen Germanen aussehen? Uns besucht manchmal einer. Er entspricht genau deinen Vorstellungen: groß, blond, jung, Soldat!“
„Du öffnest dein Haus den Feinden, lässt sie an deinem Tisch sitzen? Bewirtest sie gar?“ fragte empört die Großmutter.
„Er spricht gut französisch, hat es in der Schule gelernt. Es hört sich lustig an. Wir unterhalten uns, und er freut sich, wenn ich ihn korrigiere. Es ist ein netter junger Mann, erst 20 Jahre alt! Ich glaube, dass er Heimweh hat!“
„Aber wie hast du ihn kennen gelernt?“
„Das ist eine merkwürdige Geschichte, die ich euch gern erzählen will. Er kam eines Tages, um sich bei uns wegen nächtlicher Ruhestörung zu entschuldigen!“
„Entschuldigen? Im Krieg? Das glaube ich nicht, so etwas gibt es doch nicht!“
„Doch. Wir waren in der Nacht zuvor herausgeklopft worden. Eine kleine Truppe deutscher Soldaten stand vor dem Haus, bepackt, schwer bewaffnet. Sie trommelten heftig an unsere Fensterscheiben. Draußen regnete es in Strömen, sie hatten sich wohl verirrt, denn sie fragten nach dem Weg zum Schloss Rossignol. Ich zeigte ihnen den Weg. Ich dachte auch, wie sinnlos es doch sei, die Soldaten im besetzten Land mitten in der Nacht das halbverfallene Schloss suchen zu lassen!“
„Vielleicht sollten sie das Schloss niederbrennen. Wie konntest du nur den richtigen Weg zeigen?“
„Nein, nein. Sie waren alle schrecklich müde, so jung, so traurig, und man sah ihnen an, dass auch sie diesen Auftrag für völlig sinnlos hielten. Derjenige, der fragte, tat es in französisch. Das hat mich beeindruckt. Er fragte ganz freundlich, wie ein Wanderer nach einem Weg fragt. Am nächsten Nachmittag hatte ich die nächtliche Ruhestörung schon vergessen, als eben der deutsche Soldat urplötzlich in meinem Garten stand. Er entschuldigte sich, natürlich wieder in französisch, für die nächtliche Störung.
Er stand so in meinem Garten, schaute auf die Sonnenrosen, auf die Astern, lachte, redete, fragte!“
„Was wollte er denn wissen?“
„Nein, nein, nichts von Bedeutung. Wie die und die Blumen auf Französisch heißen, wie die Ernte sei und anderes. Er erzählte von sich, dass er Lehrer werde, und dass der Ausbruch des Krieges ihn gehindert habe, sein Studium zu beenden. Er stand und stand, zupfte ein paar Unkräuter, und wir unterhielten uns, als wären wir die besten Freunde. Ich habe ihn zur Vesper eingeladen, und seither besucht er uns des öfteren. Hunger haben die auch immer. Es ist ein netter Kerl. Und er hat Heimweh, und er will diesen Krieg überhaupt eben sowenig wie wir.
Jedenfalls gibt es nicht nur schlechte Menschen, da jenseits des Rheines!“
Aber nicht immer waren die Geschichten, die sich in diesen Kriegstagen im Elsass ereigneten, so freundlich und friedlich.
„Jetzt müssen alle Kirchenglocken abgegeben werden. Sie werden eingeschmolzen für Granaten“, sagte die Großmutter.
„Unser Pastor hat versucht, die kleine Glocke zu retten, sie ist doch sehr alt und wertvoll!“
„Ist es ihm gelungen?“
„Irgendwie schon“, lächelte die Großmutter, und die Art ihres Lächelns besagte alles.
Am Ende des Krieges wurden die Elsässer wieder Franzosen. Sie waren froh darüber und hofften, dass dies nun immer so bleiben möge. Aber so leicht war die Rückkehr in den Schoß von Mutter Frankreich nicht. Sie waren zu lange fort gewesen. Die in das deutsche Staatsverhältnis hinein Geborenen waren teils schon über 40 Jahre alt, sie kannten nichts anderes. Sie kannten auch oft die französische Sprache nicht.
„Ihr redet die Sprache des Feindes“, sagten die heimkehrenden Franzosen. Sie erwarteten ein begeistertes Bekenntnis zu Frankreich, ein laut tönendes „Vive la France“. Die Begeisterung der Elsässer erschien ihnen zu gering, zu wenig Dankbarkeit schlug ihnen entgegen. Ihnen, die gekämpft, ihr Leben gewagt, sogar verloren hatten um den Preis des zurückeroberten Elsass. Sie dachten an die Opfer, die dieser Krieg gefordert hatte. Aber die Elsässer waren so sehr an ihre Selbstverwaltung gewöhnt, sie waren nicht gewillt, darauf zu verzichten. Der einst ausgewanderte und nun heimkehrende Sohn musste feststellen, dass sich die Heimat verändert hatte. Es war nicht so leicht, wieder das linksrheinische Lied zu erlernen, wie sie gedacht hatten.
Marcels Großvater wurde wieder Franzose, und wenn er es auch ein wenig leichter hatte als manch Jüngerer, da er es als Kind schon einmal gewesen und Französisch seine Muttersprache war, gab es auch für ihn so manche Probleme.
Marcel indes hatte keinen Grund, die neue Situation zu bejubeln. Das heißt, er konnte augenblicklich weder jubeln noch denken, denn es hatte ihn eine schwere Krankheit gepackt, er hatte Typhus. Man stritt in der Familie ein wenig, wer die schlimme Krankheit nun eingeschleppt hätte, schließlich aber wurde das Thema übertönt durch die gemeinsame Sorge und Pflege. Marcel ging es ziemlich schlecht. Er versäumte ein ganzes Schuljahr, denn auch nach seiner Genesung war das Haus noch lange Zeit unter Quarantäne gestellt.
Inzwischen begann sich das Leben allmählich zu normalisieren.
Die Jahre vergingen, Marcel wuchs heran, beendete seine Schulzeit und besuchte die Universität. Zunächst hatte er sich für das Medizinstudium eingeschrieben. Nach drei Semestern erkannte er, dass er sich zum Arztberuf nicht berufen fühlte. Er versuchte es mit Ökonomie, befasste sich mit Sprachen und hörte auch ein wenig in die Literatur und die Philosophie hinein. Das Studieren bereitete ihm Vergnügen, und so hatte er es ziemlich lange ausgedehnt.
Zum Abschluss des Studiums ging Marcels Semester auf Europareise. Es war der Vorschlag eines Dozenten gewesen, der als junger Mann viel durch die europäischen Lande gereist war und sich seither der Idee einer europäischen Union verschrieben hatte. Er wollte diesen Gedanken an die nächste Generation weitergeben und meinte, dass es am besten gelingen würde, wenn die Jugend die anderen Länder mit eigenen Augen sehen könne. Das Programm der Reise hatte er selbst zusammengestellt. Sie fuhren zunächst nach Zürich, stiegen auf hohe Berge, schwammen in klaren Bergseen, befassten sich mit der Geschichte der Schweiz. Nirgendwo konnte man besser vorgelebt bekommen, wie Menschen verschiedener Sprachen und Nationalitäten friedlich neben- und miteinander leben können. Von der Schweiz reisten sie nach Österreich. Salzburg, die Stadt Mozarts, lernten sie kennen. Wien war faszinierend. Die Menschen auch. Manch fröhliche Stunde verbrachten sie in den Kaffeestuben und in den heurigen Weinlokalen. Schönbrunn! Glanz und Macht der Dynastie und des Barock! Von Wien waren sie in das siebenhüglige Budapest, von da in das hunderttürmige Prag gereist. Überall waren sie freundlich aufgenommen worden.
Ihr letztes Reiseziel hieß Deutschland. Der Professor hatte, warum auch immer, Nürnberg und Bayreuth als Zielorte gewählt. Vielleicht banden ihn persönliche Sympathien an Albrecht Dürer, den Maler, und Richard Wagner, den Musiker.
Nürnberg erreichten sie nicht.
Schon an der Grenze wurden sie aufgehalten. Deutsche Soldaten blockierten Wege und Gleise, sangen, grölten, zogen mit Lastkraftwagen und Panzern unaufhaltsam vorwärts. Eine riesige Schar deutscher Truppen war an der deutsch-tschechischen Grenze zusammengezogen worden. Krawalle ließen die Menschen erschrocken aufhorchen. Die Deutschen waren eben im Begriff, in Prag einzumarschieren. Sie lärmten und interessierten sich nicht für französische Studenten, die ihr Land besuchen wollten. Es roch nach Streit, es roch nach Krieg. Von Krieg wollten die jungen Franzosen nichts wissen, sie machten kehrt. Sie fuhren zurück nach Straßburg.
Deutschland hatten sie nicht gesehen.
Doch kurze Zeit später sollten es viele von ihnen kennen lernen, auch Marcel gehörte dazu. Aber als sie kamen, betrachteten sie es nicht mit den Augen fröhlich reisender Studenten, sie sahen es aus dem Blickwinkel Gefangener, Kriegsgefangener. Dieses Land war anders, anders als es der Professor geschildert hatte.
Es war das Land der kriegerischen Germanen.
Kriegsgefangen
Nachdem Marcel von der abgebrochenen Europareise in das Elsass zurückgekehrt war, suchte er nach Arbeit. Aber es war so leicht keine Arbeit zu finden, denn viele Unternehmen hatten sich aus dem Grenzgebiet zurückgezogen. Man ahnte, dass es Krieg geben würde. Deshalb verließ Marcel seine Heimat. In der Bretagne fand er Arbeit, und er fand Anne. Im Frühling 1939 heirateten sie, wenige Monate später aber wurde Marcel Soldat.
Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen.
Marcel war 1911 geboren. Krieg war identisch für ihn mit seiner Typhuserkrankung. Aber nachdem sie überstanden und dank seiner Jugend auch schnell vergessen war, hatte im Lande Friede geherrscht. Er hatte eine fröhliche Jugend verbracht, studiert, fühlte sich stark und froh, träumte von Erfolg, Familie, Reisen.
An Krieg dachte er nicht. Und er hatte von der Kriegstechnik keine Ahnung.
Nach Kriegsbeginn Anfang September 1939 war es an der französisch - deutschen Grenze noch still gewesen. Hitler hatte sich nach dem Überfall auf Polen nach Norden gewandt und Dänemark und Norwegen besetzt.
Frankreich fühlte sich sicher, nachdem 1927 diese großartige Verteidigungslinie, die Maginotlinie, gebaut worden war. Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges mit den erbarmungslosen Stellungskämpfen hatte Marschall Maginot geglaubt, er könnte sein Land vor künftigen Überfällen von deutscher Seite schützen. Keine Kosten waren gescheut worden, um diese Zone mit den zahlreichen starken Befesti-gungsgruppen aus Schützengräben, unterirdischen Verbindungen, tief gegliederten Panzerbatterien, gut abgedeckten Beobachtungsständen, tief eingelagerter Munition und den unterirdischen Kasernen im Hintergelände zu schaffen.
Aber es hatte nichts genutzt. An der belgischen Grenze endete die Maginotlinie, von dieser Seite war für Frankreich nichts zu befürchten. Die Deutschen aber hatten die Niederlande, Belgien und Luxemburg ohne Kriegserklärung überfallen und besetzt und waren vom Norden in französisches Gebiet eingedrungen. Sie hatten die französischen Verteidigungsanlagen einfach links liegengelassen und in sechs Wochen standen sie in Paris. Bevor Frankreich auch seine fröhliche Jugend in den Krieg schickte, hatte es ihn verloren.
Marcel war bei Kriegsausbruch zur militärischen Ausbildung in die Kaserne in Rennes eingerückt. Die Militärschule in Rennes galt als die beste des Landes. Die jungen Rekruten wurden in allen militärischen Disziplinen vorbildlich unterrichtet, von den Vorgängen im Lande erfuhren sie wenig. Und während sie in langen nächtlichen Gepäck- und Waffenmärschen ihre Kraft und Ausdauer erprobten, gehorchen und exerzieren lernten und den Umgang mit einem alten Maschinengewehr übten, hatte der Feind Paris erreicht. Sie waren sehr erstaunt, als man ihnen eines Tages mitteilte, dass die Ausbildung beendet, weil der Krieg vorbei und verloren sei.
„Der Krieg mit Deutschland ist zu Ende. Paris ist besetzt. Unsere Regierung verhandelt. Waffenstillstand! Ihr seid demobilisiert! Enthaltet euch jeder feindlichen Äußerung, wenn die Deutschen kommen!“, hatte man ihnen gesagt.
Die Deutschen kamen bald. Zahllose Lastkraftwagen hielten vor der Kaserne. Die französischen Rekruten wurden entwaffnet und auf die Lastwagen verladen.
„Ihr seid Kriegsgefangene“, erklärte man ihnen. „Ihr untersteht der deutschen Wehrmacht!“
Kriegsgefangene? Sie waren jung und unerfahren. Sie hatten für Frankreich kämpfen, sie hatten die Freiheit ihres Landes verteidigen wollen. Über Nacht waren sie zu Gefangenen geworden, man hatte ihnen keine Chance gegeben. Sie waren Gefangene, ehe sie Soldaten wurden, und der Sieger konnte über sie verfügen.
Und das tat er auch.
Man fuhr sie auf den Lastwagen durch das sommerliche Land, durch das schöne nordfranzösische Land. Manchmal hielt der Transport irgendwo. Dann wurden sie mit kleinen Aufträgen zur Aufrechterhaltung der zivilen Belange betraut. Die meiste Zeit aber verbrachten sie mit Warten. So vergingen mehrere Wochen, bis die ziellose Fahrt Mitte Oktober schließlich in Rouen endete. Auf dem schönen Platz vor der gotischen Kathedrale Notre Dame wurde unter freiem Himmel das Lager aufgeschlagen. Eigentlich war es kein Lager, denn sie saßen oder lagen dort auf den Pflastersteinen. Der Platz wurde abgegrenzt und mit deutschen Wachposten umstellt, die Bevölkerung durfte ihn nicht betreten. Dem Sieger erschien der Platz gut geeignet, leicht überschaubar, sollte einer an Flucht denken. Wie in einem Pferch hockten sie dicht zusammen, schauten an den Bürgerhäusern entlang zur Kathedrale hinüber, rauchten und warteten. Sie warteten dort zwei lange Wochen.
„Was haben sie mit uns vor?“ fragte Roman.
„Warum schicken sie uns nicht einfach nach Hause, wenn doch der Krieg für Frankreich vorbei und Waffenstillstand ist?“
„Nach Hause? Damit wir uns wieder bewaffnen und eine Armee gegen sie aufstellen? Nein, so dumm sind die nicht. Sie werden uns irgendwo für sich arbeiten lassen. Vielleicht in der Rüstungsindustrie. Sei froh, dass noch so schöne Herbsttage sind und wir uns einfach hier sonnen können!“, antwortete Marcel.
„Ich würde gern in die Kathedrale hineingehen, es ist ein herrliches Bauwerk. Aber sie lassen uns nicht. Warum lassen sie uns nicht in die Kirche?“
„Damit du durch einen Schlupfwinkel auf die andere Seite hinaus entwischen kannst?“
„Es ist ein großartige Kirche. Kennst du die Bilder von Claude Monet? Zwanzig Mal hat er sie gemalt, in immer anderem Licht. Er war fasziniert von ihrer Schönheit. Wunderbar stimmungsvolle Bilder sind das!“
„Wie würde Monet seine Bilder heute malen, mit den gefangenen Soldaten, bewacht von deutschen Uniformierten davor?“
Roman versucht sich das Bild vorzustellen, aber er schüttelt den Kopf. „Nein, Monet würde keine Kathedrale mit Soldaten malen. Von Krieg wollte er nichts wissen, der war ihm so verhasst, dass er 1870 während des deutsch-französischen Krieges nach London floh. Monet würde keine Kathedrale mit Soldaten malen!“
„Aber könnte es nicht aussehen, als seien wir wallfahrende junge Männer. Waffen tragen wir keine, die Kleidung ist auch ziemlich verschlissen. Meinst du nicht, man könnte uns für Wallfahrer halten?“
„Seit wann werden Wallfahrer bewacht? Mit Maschinengewehren?“
„Es könnte ein kleiner Ausschnitt gemalt sein, so dass man die Wachsoldaten nicht sieht, sondern nur die Kathedrale und die lagernden Männer!“
„Nein, dieser Ausschnitt wäre eine Lüge. Als Monet seine Bilder malte, war Frieden. Aber jetzt, jetzt sollte ein solches Bild gemalt werden! Ein Bild gegen den Krieg! Ich möchte es malen!“
Roman war von einem Bild der Kathedrale mit gefangenen Soldaten davor fasziniert. Er öffnete seinen Rucksack, kramte darinnen und holte einen Bleistift und einen kleinen Zeichenblock heraus.
Roman war ein musisch begabter junger Mann, besuchte das Konservatorium und nahm nebenher Malstunden. Er war klein, schlank, blass, mit dunklen Augen und ausgesprochen großen Händen. In der Uniform wirkte er verlassen, hilflos und sehr zerbrechlich. Marcel mochte ihn gern, und bald hatten sich die beiden jungen Männer angefreundet. Marcel hatte ständig das Gefühl, er müsse den anderen beschützen.
Roman breitete seinen Soldatenmantel auf dem Pflaster aus, legte sich auf den Rücken und schaute aus der Maulwurfperspektive zu den Türmen der Kathedrale hinauf. Die mächtigen Westtürme der Fassade überragte der schlanke Vierungsturm, der der höchste Kirchturm Frankreichs ist.
„Dieser Anblick ist überwältigend. Alle Touristen sollten sich die Kathedrale aus dieser Perspektive betrachten!“
Indem sie auf dem Rücken lagen, rauchten, an den Türmen emporblickten, ertönte von weitem, sehr schnell näher kommend, ein fürchterliches Dröhnen. Wenige Sekunden später sahen sie das Geschwader deutscher Flugzeuge über den Türmen auftauchen, und ebenso schnell sahen sie es in Richtung Norden verschwinden.
„Sie fliegen nach England. England hat nicht kapituliert. Sie werfen Bomben über der Insel ab“, bemerkte Marcel.
„Auf die Städte? Meinst du, dass sie die Bomben auch auf solche Kirchen werfen?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, im Krieg gibt es keine Gesetze. Vielleicht können sie das von so hoch oben auch nicht erkennen, ob es Städte, Kirchen oder Rüstungsbetriebe sind. Sie bekommen den Befehl, Richtung so und so zu fliegen, klinken die Bomben aus und fliegen zurück!“
„Würdest du das auch tun, wenn du ein Flieger wärest? Würdest du Bomben werfen können auf solche Kirchen?“
„Ich weiß es nicht, vielleicht hat man gar keine Wahl!“
„Ich könnte das nicht!“, beendete Roman das Gespräch, und man konnte ihm ansehen, wie sehr ihn dieser Gedanke ängstigte.
Er setzte sich auf, nahm den Stift zur Hand und begann die Kathedrale zu skizzieren. Das ging ihm leicht von der Hand, doch für den Vordergrund bedurfte es längerer Überlegung. Die erste Zeichnung gefiel ihm nicht, obwohl sie den natürlichen Verhältnissen entsprach: die Menschen waren klein, sehr klein, die Kirche mit ihren drei Türmen im Hintergrund sehr groß. Er warf das Blatt auf das Pflaster, doch ein anderer bückte sich danach und hob es auf. Roman entwarf viele Bilder, aus immer anderen Perspektiven. Mit jedem Bild wurden die Figuren größer und die Türme kleiner. Schließlich malte er im Vordergrund einen sehr großen deutschen Soldaten in der Rückansicht. Die Waffe hatte der Deutsche über die sitzenden, dicht aneinander gedrängten gefangenen Franzosen auf die Kathedrale gerichtet. Darüber, auf die Türme zu, flogen drohend drei deutsche Kampfflugzeuge, aber sie warfen keine Bomben ab. Es schien fast, als hätte der Maler sich vor der Darstellung der Zerstörung der Kathedrale gefürchtet. Als es Jahre später geschehen wird, wird er nicht mehr am Leben sein.
Wenige Tage später betrachtet Roman seine Zeichnungen noch einmal. Einem inneren Zwang folgend greift er nach dem Zeichenstift und beginnt geringfügige Änderungen auszuführen, die dennoch so wesentlich sind, dass sie die Aussage des Bildes umkehren: die große Figur im Vordergrund hatte jetzt anstelle der Waffe die Trikolore in der Hand, die heftig im Winde flatterte. Diese Bewegung nahmen die Gefangenen auf, indem sie sich zu erheben begannen, manche stehend schon, manche noch sitzend. Die Flugzeuge aber waren mit wenigen Federstrichen in große Zugvögel verwandelt worden.
Von dem Augenblick an, da Roman zu zeichnen begonnen hatte, war ein kräftiger, blonder Bursche, dem man den Bauernsohn von weitem ansah, nicht von seiner Seite gewichen. Michel war ein fröhlicher Mensch, einer, der zupacken konnte, dem das Nichtstun sehr schwer fiel. Er lief ständig durch die Reihen der Lagernden, erzählte hier einen Witz, dort eine Geschichte und mitunter konnte man ihn auch kraftvoll fluchen hören. Vor Romans Malerei wurde er still. Jede Skizze, die Roman verwarf, hob er sorgsam auf und bewahrte sie in seinem Rucksack. Er war fasziniert von Romans Zeichenkunst.
Mit wachsendem Erstaunen hatte er die Verwandlung des Bildes verfolgt. „Seht euch das an“, rief er erregt aus, „seht euch an, was Roman gemacht hat!“
Die anderen kamen heran, schauten schweigend über Romans Schulter auf das veränderte Bild. Dann fing einer ganz leise zu summen an. Das Summen wurde lauter und lauter, und schließlich wurde es ein Lied, dessen Worte alle kannten: sie summten die Marseillaise!
Zunächst aber interessierte es niemanden, ob der eine ein Patriot, der andere ein Pazifist war. Keiner fragte danach, ob die einen den verlorenen Krieg als Schmach empfanden, die anderen einfach froh waren, am Leben zu sein. Es ist die Sache der Jugend nicht, nach dem Kommenden zu fragen. Auch in Rouen warteten die gefangenen jungen Menschen geduldig auf das, was mit ihnen geschehen würde. Manchmal erhielten sie kleine Aufträge, wurden irgendwohin zu einer Arbeit gefahren. Am Abend aber wurden sie immer wieder auf den Domplatz zurückgebracht, der ganz sicher von denen, die ihn in den vergangenen Jahrhunderten geschaffen hatten, nicht für ein Soldatencamp bestimmt worden war.
„Wir brauchen erst einmal nicht zu kämpfen, zu schießen und zu töten,“ meinte Roman. „Wenn ich doch bloß wüsste, was sie mit uns vorhaben! Vielleicht wäre es besser, kämpfen zu müssen. Was soll aus Frankreich werden?“
„Aber wie, wenn das Land von den Deutschen besetzt ist?“
„Vielleicht müsste eine Jeanne d`Arc kommen und uns mitreißen?“
„Nach Rouen, wo man sie verbrannt hat? Nein, das gibt es nicht mehr. Was soll sie auch mit der Fahne bewegen, wenn der Krieg aus der Luft geführt wird!“
„Würdest du ihr folgen, wenn eine auf den Domplatz käme und uns aufriefe, die deutschen Wachen zu überfallen?“
„Die Deutschen würden dumm gucken!“
„Wahrscheinlich würden sie schießen. Nein, solche Geschichten taugen nicht mehr für unsere Zeit, wo der Krieg aus der Luft geführt wird, aus ziemlicher Sicherheit!“
„So sicher ist das auch nicht. Ich zähle immer die Flugzeuge, die nach England fliegen. Wenn sie zurückkommen, fehlen stets ein paar. Die Engländer holen sie herunter!“
„Vielleicht werden die Engländer uns helfen und Frankreich befreien. Ich hoffe es sehr!“
„Im Augenblick können wir nur warten und uns überraschen lassen, was die Deutschen mit uns vorhaben!“
Und sie hatten dieses vor. Plötzlich kam das Kommando: aufstehen, Platz räumen, antreten in Sechserreihen, aufschließen. Abmarsch.
Im Laufschritt ging es zum Bahnhof. Dort standen Güterwagen bereit, die sie nach Deutschland bringen würden. Gesagt wurde ihnen das nicht, aber durch alle Wagen kroch leise, geflüstert und unaufhaltsam die Nachricht: Deutschland! Sie bringen uns nach Deutschland.
Der Herbst hatte seine schönsten Tage verbraucht, auch in der Normandie. Die Tage wurden kälter, Nebel und Regen hüllten das Land ein. Für die Reise gen Osten waren die französischen Rekruten armselig ausgerüstet. Ihre Kleidung war dünn, sie waren auf den Winter nicht vorbereitet gewesen, als man sie im Juni in Rennes aus den Kasernen holte. Damals war Sommer. Das Übernachten unter freiem Himmel war erträglich gewesen, die Sonne hatte sie geschützt. Doch unterwegs wurde es kalt, denn sie fuhren ostwärts, immer weiter ostwärts. Aneinandergepfercht in den leeren kalten Güterwagen froren sie jämmerlich. Sie wärmten sich aneinander, und bei der Enge half das ein wenig, denn es waren ihrer viele.
Mühlberg
Auf einen, der aus dem Elsass kommt, in den rebenbewachsenen Hügeln einer Berglandschaft zu Hause ist, muss die Elbaue am Mittellauf des Flusses einen traurigen Eindruck machen. Einem, der nicht freiwillig, sondern als Gefangener kommt, muss diese Landschaft trostlos erscheinen. Vielleicht wäre es im Sommer noch erträglich, wenn das Grün der Bäume die Weite in ihrer Ausdehnung bändigt und der Blick immer wieder durch das in unterschiedlichen Farben leuchtende Laub aufgehalten wird. Im Winter, da nur der Maler die farbigen Nuancen der Landschaft zu sehen vermag, geht eine müde Traurigkeit von ihr aus. Die Flussufer sind noch abwechslungsreich und durch das Gemurmel des fließenden Wasser lebendig. Aber die sich von den Ufern entfernende Ebene ist teilnahmslos schweigend in sich verloren. Das ganze Land ist mit Schnee bedeckt, mit viel Schnee. Selbst die Einheimischen können sich nicht an einen so schneereichen Winter erinnern.
Die Gefangenen hatten nach der weiten Bahnreise, die immer öfter aufgehalten worden war, weil die westwärts rollenden deutschen Soldatenzüge den Vorrang der freien Fahrt hatten, endlich ihr Ziel erreicht. Die deutschen Soldatenzüge rollten westwärts, ostwärts rollten die Züge mit den französischen Kriegsgefangenen. Sie wurden ostwärts gebracht, um die Arbeit derer zu tun, die sie nicht tun konnten, weil sie westwärts zu rollen hatten, um ein anderes Land zu besetzen. Irgendwo unterwegs müssen sie einander begegnet sein, irgendwo. Hätten sie voneinander gewusst, sie hätten liebend gern ihre Fahrtrichtung getauscht. Die deutschen Männer wären gern ostwärts gefahren, nach Hause, um dort ihrem Tagewerk nachzugehen. Die meisten von ihnen wollten ebenso wenig kämpfen, töten und sterben wie die französischen Männer, die als Gefangene ostwärts fuhren. Auch sie wären sehr gern heimgegangen zu ihren Familien, in ihre Dörfer, ihre Weinberge, ihre prächtigen Kirchen. Aber weder die deutschen noch die französischen Männer waren gefragt worden, ob sie Soldaten sein wollten. Zu keiner Zeit wurden die Menschen danach gefragt.
Durch die langen Aufenthalte, das Stehen auf Abstellgleisen und das mitunter langsame Rollen hatten die Franzosen den Eindruck gewinnen müssen, dass man sie viel weiter nach Osten gebracht hätte, als das der Fall war. Als sie nach acht Tagen zu nächtlicher Stunde den Zug verlassen mussten, waren sie steif, schwach, benommen und geblendet von dem harten Weiß der endlosen Schneelandschaft, die in kaltes Mondlicht getaucht war. Sie reckten die Glieder und waren froh, sich bewegen zu können. Aber zur Entspannung der erstarrten Körper blieb keine Zeit, wenn man von der Bewegung des Laufens absieht. Das Laufen im tiefen, ungespurten Schnee, getrieben durch die Kommandos der deutschen Soldaten zum Schnellergehen, als wäre plötzlich keine Zeit mehr, fiel schwer. Die Beine waren lahm, mussten sich erst wieder an die ihnen bestimmte Aufgabe gewöhnen. Die Körper waren geschwächt. Aber man musste laufen, schnell laufen. Manche rutschten aus, brachen erschöpft zusammen, andere halfen ihnen auf und zogen sie mit. Das Gebell der Hunde, das ihnen wie Geheul von Wölfen vorkam, trieb sie voran, einem unbekannten Ziele zu. Marcel war müde und sehr niedergeschlagen, er hatte unterwegs kaum geschlafen. Immer wieder hatte er versucht, durch winzige Ritzen im Waggon die Landschaft zu sehen, natürlich erfolglos. Während des Marsches versuchte er, sich an die Schilderungen von Deutschland zu erinnern, die der Professor seinen Studenten vor der Europareise gegeben hatte. Von Bergen war die Rede gewesen, Hügeln, schönen Städten und freundlichen sauberen Dörfern, von Flüssen, Seen und fleißigen Menschen. Von Bauern, die ihre Felder bestellen. Von Malern, Poeten, Bildhauern, Philosophen und Musikern hatte der Professor geschwärmt. Die Neugier auf das Land hinter den Schwarzwaldbergen hatte Marcel von Kindheit an begleitet, immer hatte er es sehen wollen, dieses andere Land. Jetzt, da er es sah, war er tief enttäuscht. Von öden, einsamen Schneefeldern, eisiger Kälte, von Kommandos brüllenden Wachsoldaten hatte niemand gesprochen. Doch die die kalte Luft durchschneidenden Sprachfetzen ließen keinen Zweifel zu: es war Deutschland!
Roman, der Maler, der während der langen Bahnfahrt meistens geschlafen hatte, war dagegen hellwach. Die Qual der gegenwärtigen Situation schien er nicht zu empfinden, denn er nahm mit aufmerksamen Augen die neue Umgebung wahr.
„Das müsste man malen“, sagte er zu Marcel, ein wenig atemlos vom schnellen Laufen, „den endlosen dunklen Zug der Gefangenen im tiefen weißen Schnee, und daneben das lebendige Wasser des fließenden Stromes!“
„Das ist doch ein trauriger Anblick. Wozu willst du das malen?“
„Fühlst du nicht die Hoffnung, die das Wasser verheißt? Wie es lebt, in entgegengesetzter Richtung fließt? Wie es von Änderung redet, uns Mut macht, verkündet, dass es so nicht bleiben wird?“
„Du bist ein Phantast! Wie du die Dinge siehst und deutest! Aber manchmal wünschte ich, ich könnte das auch! Vielleicht lassen sich Widerwärtigkeiten unseres Lebens dann leichter ertragen! Natürlich werden wir eines Tages heimwärts fahren, aber wann? Was erwartet uns hier?“
„Hier werden wir arbeiten müssen“, sagte Michel, der die Unterhaltung der Freunde mit angehört hatte. Und er sagte es so, als wenn er durchaus dazu bereit wäre. „Ich fühle mich eingefroren und verrostet, ich brenne darauf, etwas zu tun! Das Nichtstun macht mich krank!“ Er bückte sich, formte einen Schneeball, der sehr hart wurde, und schleuderte ihn kraftvoll in die weite Ebene. Das Geräusch des Aufpralles auf die gefrorene Erde klang wie ein Schuss.
Als er sich wieder bücken wollte, stand der deutsche Wachsoldat schon neben ihm und drohte mit der Waffe. „Sie fürchten sich vor Schneebällen“, lästerte er leise in Französisch, und trat fest auf den harten Boden, unterließ es aber, sich mit dem Soldaten anzulegen.
Der Marsch dauerte etwa eine Stunde, dann hielt die Kolonne vor einer großen, unbewaldeten Fläche. Stacheldraht grenzte das Gelände von der Umgebung ab, unzählige Wachtürme schlossen es ein. Das grelle, kalte Licht der vielen Scheinwerfer erleuchtete das Lager und gab dem Ort ein gespenstiges Aussehen. Wütendes Hundegebell und Geschrei lauter Männerstimmen ertönte aus seinem Inneren. Gespenstig hoben sich die dunklen Baracken, die ihre künftigen Behausungen sein würden, aus dem kalten Weiß.
Marcel fragte niedergeschlagen: „Wo ist dein Hoff-nungszeichen, Roman? Wo ist das Licht des Augenblicks, das du überall bemerkst, das uns tröstet?“
„Siehst du nicht den Rauch, der aus den Barackenschornsteinen aufsteigt? Rauch ist Feuer, Feuer ist Wärme. Hier wird geheizt, wir werden nicht mehr frieren müssen!“
Die Tore schlossen sich hinter ihnen, und beim Knarren der Angeln spürten sie erstmals wirklich, dass sie „gefangen“ waren.
Im Lager ging alles schnell und mit deutscher Gründlichkeit, Kommando folgte auf Kommando: ausziehen, duschen, andere, schäbige zwar, aber saubere Kleidung fassen, anziehen, Suppe fassen, antreten, Nummern bekommen, Pritsche belegen, antreten, zurück in die Baracke.
Marcel, Roman und Michel hatten auf einer der harten, mit Stroh belegten Dreistockkojen übereinander Platz gefunden. Etwa 80 dieser einfachen, gezimmerten Holzgerüste standen in dem großen Raum, in dem etwa 250 Menschen untergebracht worden waren. In der Mitte befanden sich zwei gemauerte, an den gleichen Schornstein angeschlossene Öfen. Wieviele solcher Baracken es in dem abgegrenzten Gelände gab, konnten sie bei der Dunkelheit nicht erkennen. Es hatte sie auch wenig interessiert, denn sie waren froh, endlich einen eigenen Schlafplatz zu haben.
Die Freunde unterhielten sich leise, bis der deutsche Wachsoldat an der Tür
„Ruhe“ schrie, und schliefen bis zum nächsten Morgen.
Das Kriegsgefangenenlager in der Nähe der kleinen Stadt Mühlberg an der Elbe war gleich bei Kriegsausbruch 1939 von der deutschen Wehrmachtsführung eingerichtet worden. Die ersten Gefangenen brachte man im Oktober 1939 nach dem Überfall auf Polen nach Mühlberg, wo sie zunächst fast ausschließlich in großen Zelten untergebracht wurden. Für den Aufbau der Baracken setzte die deutsche Wehrmacht schon polnische und französische Kriegsgefangene ein. Ab Sommer 1940 war das Lager aufnahmefähig für etwa 10.000 Gefangene. Es war eines der Sammel- und Durchgangslager für Soldaten und Unteroffiziere, von denen es in Deutschland während des Krieges 80 geben würde. Von Mühlberg aus wurden die Gefangenen in die zahlreichen Arbeitskommandos in Sachsen, der Provinz Sachsen und im Sudetenland verteilt. Hunderttausende Kriegsgefangene von allen Kriegsfronten durchliefen daher das Lager ohne längeren Aufenthalt. Waren es am Beginn des Krieges die Polen, Dänen, Norweger, Belgier, Holländer und Franzosen, kamen entsprechend des weiteren Kriegsverlaufes Gefangene aus den Balkanländern, Nordafrika, der Sowjetunion und Briten hinzu. Die Franzosen waren anfangs die am stärksten vertretene Nationalität, denn etwa 1,8 Millionen junger Männer kamen aus Frankreich in deutsche Gefangenschaft.
Für den Aufbau eines Kriegsgefangenenlagers galten entsprechende feststehende Bestimmungen, die formell auf den internationalen Abmachungen der „Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen“ basierten. Die Genfer Konvention war 1929 von 61 Nationen unterschrieben worden, auch von Vertretern des Deutschen Reiches. Nach der Ratifizierung wurde das Abkommen am 21.August 1934 durch Hitlerdeutschland in Kraft gesetzt.
Bis zur Abfassung der Genfer Konvention war es ein weiter Weg gewesen. Die Idee zur Festschreibung einer internationalen Reglung zur Behandlung von Kriegsgefangenen entsprang zunächst dem Engagement eines einzelnen. Der aus einer angesehenen Genfer Familie stammende Literat Henri Dunant hatte 1859 das Elend und die Leiden der verwundeten und verletzten Soldaten auf dem Schlachtfeld von Solferino gesehen. Tief beeindruckt von der Hilflosigkeit und den Schmerzen der Menschen, um die sich niemand kümmerte, wird der Gedanke, eine humanitäre Lösung zu finden, zu seinem Lebensinhalt. Er reiste von Land zu Land, wurde vorstellig bei den Regierungen, bei den Königen, hielt Vorträge, warb zäh um die Zustimmung der Herrschenden. Nach seinen Vorstellungen sollten künftig Militärärzte und freiwillige sanitäre Helfer von allen kriegführenden Mächten neutral betrachtet werden. Es dauerte, es bedurfte vieler Überzeugungsarbeit, doch fanden sich Gleichgesinnte. In vielen europäischen Ländern wurden eigenständige Kommissionen gebildet, und schließlich führten die Bemühungen 1929 zur Abfassung der Vereinbarung unter der Bezeichnung „Genfer Konvention“. In 97 Artikeln wurden die Unterbringung der Gefangenen, der Umgang mit ihnen, die sanitäre und ärztliche Versorgung, die Verpflegung, der Arbeitseinsatz und die Möglichkeit der Heim-sendung geregelt. Die Kontrolle wurde dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes unterstellt.
Die deutsche Wehrmacht ergänzte die Bestimmungen durch detaillierte Vorschriften. Die Lage der Lager sollte abseits vom Durchgangsverkehr, der Bahnanschluss aber in erreichbarer Nähe sein. Wegen besserer Übersichtlichkeit und der Möglichkeit der Überwachung wurde ein ebenes, waldloses, sandiges Gelände von etwa 30 Hektar Flächengröße gefordert. Die Unterbringung der Gefangenen in Baracken mit entsprechenden hygienischen Einrichtungen war ebenso zulässig wie die Verwendung gesunder Gefangener als Arbeitskräfte ohne Bezahlung. Zu diesem Zweck wurden Arbeitskommandos eingerichtet. Auch Zivilpersonen konnten sich in diesen Lagern entsprechend ihrer Bedürfnisse geeignete Arbeitskräfte aussuchen. Davon wurde reger Gebrauch gemacht, denn Arbeiter fehlten überall. Männer und Söhne waren Soldaten, wer sollte die Arbeit tun?
Es kamen die kleinen Unternehmer, die Bahnbeamten, die Bauersfrauen, alte Handwerksmeister und Werkleiter. Die Gefangenen gingen nicht ungern mit ihnen. Sie hofften außerhalb des Lagers auf mehr Freiheit, bessere Verpflegung, mehr menschliche Begegnung und Verständnis, vielleicht auch auf die Möglichkeit zur Flucht.
Gefürchtet waren dagegen die Arbeitskommandos. Sie hatten den Ruf eines Strafbataillons mit schwerster, körperlicher Arbeit unter rücksichtslosem, harten Kommando, was den Vorstellungen in den meisten Fällen auch entsprach. Die Unterbringung vor Ort in provisorischen feuchten Unterkünften neben einer zwölf- bis vierzehnstündigen Arbeitszeit beeinträchtigte den körperlichen Zustand der Gefangenen sehr bald und Krankheiten und Seuchen breiteten sich rasch aus.
Nach der ersten Nacht im Lager wurden die Gefangenen morgens 5 Uhr geweckt. Marcel, Roman und Michel achteten sehr darauf, zusammenzubleiben, was ihnen zunächst auch gelang. Vor den Baracken mussten sie sich in Viererreihen aufstellen. Sie standen in ihrer dünnen Kleidung lange in der herbstlichen Kälte und warteten. Ein deutscher Feldwebel begann die Gefangenen zu zählen. Er zählte laut und genau, übersprungen wurden nur die Verwundeten und Kranken. Als die Reihe an die Freunde kam, zögerte der Auszähler, als er den schmächtigen, frierenden Roman sah. Doch als er dessen große Hände wahrnahm, verpasste er ihm die Zahl 40. Damit war der Bedarf für ein Arbeitskommando offenbar gedeckt, Marcel und Michel wurden nicht mehr benötigt. Sie blieben in der Reihe stehen und schauten Roman, der auf die andere Seite treten musste, traurig an. Unterhaltungen waren verboten, aber dennoch rief Marcel ihm leise zu:
„Du hast Glück, kommst heraus aus dem Lager! Schade, dass wir getrennt werden. Ich ginge so gern mit dir, du siehst immer so optimistische Bilder, die mich aufmuntern. Hoffentlich komme ich auch bald heraus!“
„Vielleicht komme ich auf einen Bauernhof. Dort ist es warm, es gibt viele Tiere, und ein Stückchen Papier zum Zeichnen findet sich immer!“
„Dass man dir Zeit zum Malen lässt, möchte ich bezweifeln. Leb wohl, Roman, halt dich tapfer! Ich wünsche dir viel Glück!“, meinte Michel.
„Lebt wohl, wir sehen uns bestimmt wieder! Ver-gesst nicht, dass immer irgendwo ein Lichtschimmer ist! Man muss ihn nur sehen!“
Verstohlen griff Roman in seine Hosentasche, holte zwei seiner Kathedralenzeichnungen heraus und drückte die Blätter den beiden Freunden schnell in die Hände. Die Geste blieb unbemerkt.
Marcel und Michel sahen ihm traurig nach, als kurz darauf die ausgezählte Kolonne das Lager verließ.
Ein paar Tage später wurde Michel herausgewinkt. Aber er wurde nicht wie Roman einer Arbeitskolonne zugeteilt, sondern einem alten Bauern übergeben. Es waren an diesem Tage viele Zivilpersonen am Lagertor aufgetaucht, die sich ihre Arbeitskräfte direkt abholten. Das Bäuerlein war klein, gebeugt und wirkte etwas hilflos. Die langen Jahre schwerer Landarbeit lasteten auf seinen Schultern, und man hätte ihm einen ruhigen Lebensabend gewünscht. Sicher hatte er in Michel den Bauernsohn erkannt, er wusste, dass dieser junge Franzose arbeiten konnte. Es sah merkwürdig aus, wie die beiden zusammen den Lagerhof verließen, und Marcel hatte das Gefühl, als wollte Michel den Alten stützen. Gleich darauf verschwand Michel aus Marcels Blickfeld. „Ich schreibe dir nach Hause!“, hatte er im Gehen noch gerufen.
Marcel blieb zurück, er war sehr allein, traurig und mutlos.
Dolmetscher
Das Ritual des Antretens und Auszählens der Arbeitskommandos wiederholte sich Tag für Tag. Tag für Tag trafen neue Gefangene ein, Tag für Tag verließen sie ebenso schnell wieder das Lager. Zurück blieben Kranke, Schwache und Arbeitsuntaugliche. Marcel gehörte nicht zu den Ausgesonderten, aber seltsamerweise war er bisher übersehen worden. Vielleicht, weil er sehr klein war, unauffällig, vielleicht auch, weil ihm vom Schicksal ein anderer Weg bestimmt worden war.
Eintönig verliefen die Tage. Gefangene kamen, blieben, gingen. Oft hinkten sie mit bloßen oder in Lappen gehüllten Füßen durch den tiefen Schnee. Marcel blieb im Lager. Niemand zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte: den! Dabei wäre er so gern mitgegangen, an einen Ort, wo Leben ist. Aber wenn die „Einkäufer“, wie die Gefangenen die deutschen Zivilpersonen nannten, seine schmächtige Gestalt und seine schmalen Hände sahen, winkten sie ab. Sie brauchten kräftige Leute, die die Arbeit für zwei leisten würden. Marcel fror sehr, denn seine Bekleidung bestand nach dem Kleidertausch am Ankunftstag aus Holzschuhen, einer viel zu großen Uniformjacke der belgischen Armee mit Knöpfen, auf denen das Bildnis des Königs Leopold war. Auf dem Kopf hatte er ein Käppi der französischen Briefträger, wie immer das in die Kleiderkammer des Lagers gekommen war. Er fror auch aus Traurigkeit. Er sehnte sich nach den Gesprächen mit Roman, an dessen merkwürdige, verträumte und doch positive Art, die Dinge zu sehen, er sehnte sich nach den lauten Protesten Michels. Vor drei Wochen hatten beide das Lager verlassen, und jeden Tag hatte Marcel gehofft, dass er es auch könne. Bloß fort. Heute fühlte er sich besonders unglücklich. Mit gesenktem Kopf stand er in der Reihe der Gefangenen, schon uninteressiert an dem Geschehen ringsumher. Doch plötzlich erschrak er, und schaute auf, denn die deutschen Offiziere waren vor ihm stehen geblieben. Einer, den er bisher noch nicht gesehen hatte, blickte ihn forschend an. Die Armbinde mit dem Zeichen des Roten Kreuzes wies ihn als Lagerarzt aus.
„Ich bemerkte vorhin, dass Sie Deutsch verstehen. Sicher sprechen Sie es auch. Leider beherrsche ich die französische Sprache nicht, zu meinem Bedauern. Ich benötige für die Arbeit im Lazarett einen Dolmetscher. Wollen Sie mein Dolmetscher sein?“
„Nein“, schrie es in Marcel, „ich will nicht in diesem schrecklichen Lager bleiben. Ich will hinaus, wo es wärmer ist, heller, freundlicher. Wo ich mit den Menschen reden kann, wo nicht nur Elend und Krankheit ist. Ich will nicht hier bleiben bis zum Ende des Krieges! Ich will hinaus!“
Aber er sprach diese Worte nicht aus. Er sah den Offizier schweigend an, abweisend, finster, und doch spürte er, dass in diesem Augenblick eine Entscheidung gefallen war. Merkwürdig war schon der Umstand, dass dieser Offizier ihn, einen Gefangenen, fragte. Gefangene wurden nicht gefragt, über sie wurde verfügt, sie erhielten Befehle. Warum hatte dieser Offizier nicht gesagt: „Melden Sie sich morgen 9 Uhr in der Sanitätsbaracke. Sie werden als Dolmetscher im Lazarett eingesetzt!“
„Wollen Sie“, hatte er gefragt! Marcel verstand die deutsche Sprache gut genug, um den von dem bisherigen Umgang mit den Gefangenen abweichenden Ton zu bemerken. Und entgegen seinen Hoffnungen nickte er langsam und nur ganz wenig mit dem Kopf.
„Gut, morgen erwarte ich Sie in der Sanitätsstube!“
Die Lazarettbaracken lagen ein wenig abseits der anderen Unterkünfte, sie bildeten ein Lager im Lager und waren zusätzlich mit Stacheldraht von den anderen Baracken getrennt. Für den Lazaretttrakt gab es besonders strenge Bestimmungen, die dort Tätigen durften das übrige Lagergelände nicht betreten. Das war sicher eine notwendige Anweisung, man hoffte, den bald um sich greifenden Seuchen durch die Isolation entgegenwirken zu können.
Für Marcel war es eine nochmalige Einengung seiner Bewegungsmöglichkeiten. Sein Leben würde sich fortan auf den wenigen hundert Quadratmetern des Lazarettterrains abspielen. Er bezog eine Pritsche in einem abgetrennten Teil einer Lazarettbaracke, die er mit sechs weiteren französischen Kriegsgefangenen, die als Krankenhelfer ausgewählt worden waren, teilte.
Die Sanitätsstube befand sich ein Stück entfernt von den Lazarettbaracken, ziemlich nahe dem Lagertor. In diesem Standort sollte für Marcel künftig die einzige Abwechslung liegen, denn vor dem Lagertor herrschte ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. Die Gefangenen kamen aus den unterschiedlichsten Kriegsgebieten. Mitunter bot sich Gelegenheit zu einem kleinen Gespräch. Dann drängte sich Marcel an den Drahtzaun, versuchte aus Sprachfetzen die Heimat der Ankommenden zu erkennen, und wenn er ihre Sprache verstand, fragte er sie nach dem Ort ihrer Gefangennahme und ihrem Weg nach Mühlberg. Auf diese Weise versuchte er etwas über den Fortgang des Kriegs zu erfahren.
Die Mannschaft der Sanitätsstube bestand aus dem Hauptstabsarzt Dr. Paul Seidel, zwei sudetendeutschen Ärzten, einem deutschen Feldwebel und einem einfachen deutschen Soldaten.
Dr. Seidel war eine gepflegte Erscheinung. Er war mittelgroß, braunäugig, schlank, ein brünetter Typ, vielleicht mit einer ein wenig zu großen Nase. Sein Auftreten war vorbildlich. Er sprach ein einwandfreies Hochdeutsch mit einem winzigen sächsischen Akzent. Seine Anordnungen und Entscheidungen traf er ruhig, bestimmt und überlegt. Vorurteile kannte er nicht, Arroganz war ihm ebenso fremd wie Machtgehabe. Er erfüllte ganz einfach die ihm gestellte Aufgabe als Lagerarzt. Vielleicht war er für sein Alter ein wenig zu ernst. Er wirkte oft traurig, lächelte kaum, nur selten zeigte sich in seinen Mundwinkeln ein leicht ironischer Zug.
Paul Seidel war knapp 40 Jahre alt, als er als Stabsarzt im Kriegsgefangenenlager Mühlberg eingesetzt wurde. Sein bisheriges Leben war in geordneten Bahnen und ganz nach seinen Wünschen verlaufen. Der Gymnasialzeit war die Immatrikulation an die Universität, dem Studium die Promotion zum Doktor der Medizin gefolgt. Die Assistentenzeit hatte er in verschiedenen medizinischen Einrichtungen verbracht, danach wandte er sich der Inneren Medizin zu und ließ sich zum Facharzt ausbilden. Vor wenigen Jahren hatte er in Dresden eine eigene Praxis eröffnet und eine Familie gegründet. Stolpersteine hatte es in seinem bisherigen Leben keine gegeben. Jugendlicher Übermut war einer ernsthaften Dienstauffassung und einer strengen Lebenshaltung gewichen. Er wirkte daher älter, als er war. Seine braunen Augen betrachteten aufmerksam, kritisch und nachdenklich seine Umwelt.
Er stammte aus Olbernhau, einem kleinen Städtchen im Erzgebirge. Sein Vater war Studiendirektor gewesen und hatte an verschiedenen erzgebirgischen Lehrerseminaren gewirkt. Die Spezialfächer des Professors Seidel waren Theologie, Philosophie und alte Sprachen. Er beherrschte nicht nur Latein, sondern vermochte ebenso problemlos altgriechische und hebräische Texte in der Originalfassung zu lesen. In diesem Elternhaus hatten die beiden Söhne, Paul und sein jüngerer Bruder Markus, eine hervorragende humanistische Erziehung und Ausbildung erhalten, die sie in ihrer Jugend oft genug verwünscht hatten. Aber als die Söhne heranwuchsen und eigene Existenzen gegründet hatten, begannen sie das Fluidum des Elternhauses zu schätzen. Beide freuten sich ungemein auf die Besuche daheim und die ausgedehnten Gespräche mit dem „Alten Herrn“. Die Diskussionsrunde im kleinen Studierzimmer des Vaters, wenn die Tabakspfeifen glühten und ein guter Wein in den Gläsern funkelte, gehörte für alle drei zu den schönsten Stunden. Ihre Gespräche bewegten sich nicht fernab der politischen Ereignisse, aber es konnte schon vorkommen, dass sie alles um sich herum vergaßen und in die Weisheit der Philosophen eintauchten.
Markus war in des Vaters Fußstapfen getreten und hatte Pädagogik studiert. Nicht weit entfernt vom Heimatort war er an einer Dorfschule als Lehrer für Deutsch und Sport tätig. Die Wahl der Fächer fußte schon auf einem leisen Protest gegen die trockene väterliche Wissenschaft. Allmählich aber war auch sein Interesse an den Sprachen erwacht und vor einem Jahr hatte er begonnen, griechisch zu lernen.
Paul hatte sich von Anfang an für die Medizin entschieden, war demnach auch des Lateinischen, soweit er es beruflich benötigte, kundig. Das Interesse an der Philosophie hatte der Vater wohl seinen Söhnen in die Wiege gelegt. Beide hatten sich während des Studiums auch ein wenig mit dieser Geisteswissenschaft beschäftigt.
Seit der Machtübernahme Hitlers aber gab es sehr selten philosophische Betrachtungen in der kleinen Olbernhauer Studierstube, die Gespräche hatten sich den bedrückenden deutschen Ereignissen zugewandt. Die Entwicklung Deutschlands unter der Diktatur der Hitlerpartei entsetzte den Professor sehr. Als er erkennen musste, dass eine Änderung sobald nicht eintreten würde, beantragte er seine vorzeitige Emeritierung und schied aus dem Lehrbetrieb aus.
Das konnten seine beiden Söhne natürlich nicht. Sie teilten die Ansichten des Vaters, verachteten besonders die Rassenideologie und die Hegemonieansprüche der Nationalsozialisten, hatten es aber mit der öffentlichen Haltung weit schwerer als ihr anerkannter Vater. Für Paul waren die Probleme geringer. Als niedergelassener Arzt war er vor Kriegsanfang noch weitestgehend unabhängig und unbehelligt.
Er empörte sich sehr über den Hitlergruß, mit dem manche Patienten seine Praxis betraten. Wie man auf so eine abwegige Idee kommen konnte, einen Familiennamen als Gruß zu benutzen, verstand er nicht. Er erging sich ausschweifend in den unmöglichsten Grußvarianten, indem er dem Führer andere Namen gab.
„Vielleicht müssten wir dann Heil Kaspar oder Heil Specht grüßen!“, sagte er bissig. Dem Vater aber erschienen die Namensspielereien seines Ältesten kindisch und recht ärgerlich unterbrach er dessen Bemerkungen.
„Du hast offenbar den Ernst der Lage nicht erkannt, wenn du dich in solchen Belanglosigkeiten verlieren kannst. Durch diesen absurden Gruß wird niemand diskriminiert! Viel schlimmer ist der selbstgewählte Anspruch als Herrenrasse und die Verachtung anderer Kulturen. Große Gefahr geht von dieser Ideologie aus. Die primitive Hetzpropaganda gegen jüdische Bürger und deren Ausgrenzung durch immer neue Gesetze und Maßnahmen widerspricht jedem völkerrechtlichen Prinzip!“
„Vor ein paar Wochen erschienen zwei Parteigenossen in meiner Praxis, wahrscheinlich im Auftrag ihrer Parteileitung. Sie traten eher schüchtern als herrisch auf, und so konnte ich ihnen sachlich und ruhig erklären, dass ich beruflich sehr stark gefordert bin und keine Zeit für parteiliche Aufträge hätte!“
„Sie kommen wieder. Du wirst Dir andere Argumente ausdenken müssen!“, warf Markus ein.
„Vielleicht kommen sie oder andere. Ich werde sie meiner ärztlichen Hilfe versichern, sofort nach ihren Beschwerden fragen und sie bitten, die Praxis zu verlassen, da im Wartezimmer viele Patienten auf eine Behandlung warten! Zu meinem Erstaunen musste ich bei Tagungen der Ärztekammer feststellen, dass auch unter den Ärzten Sympathisanten der Hitlerpartei sind!“
„Du hast es leichter“, sagte Markus. „Als Lehrer in einem kleinen Dorf ist man überall bekannt und gehört neben Schulleiter, Bürgermeister, Pastor und Förster zu den wichtigsten Vertretern der Dorfgemeinschaft. Meine beiden Lehrerkollegen tragen schon das Parteiabzeichen. Fast täglich werde ich zum Eintritt in die Partei aufgefordert! Vor allem von Seiten des Schuldirektors, der sehr fanatisch ist!“
Es war ein trauriger Tag, als Markus im Herbst 1937 seinem Vater mitteilen musste, dass er der NSDAP beigetreten sei. Nach der Neuregelung der Verbeamtung der Lehrer hatte er dem Druck nicht mehr ausweichen können.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Markus sofort einberufen, während Paul zunächst seine Praxis weiter betreiben konnte. Da er allem Militärischem ablehnend gegenüberstand, war er darüber sehr froh. Auch er war wie der Franzose Marcel durch sein Geburtsjahr von persönlichen Kriegserfahrungen bisher verschont geblieben, denn als 1935 in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, lag er mit seinen dreißig Jahren über dem Einberufungsalter. Seine persönliche Haltung grenzte fast ans Pazifistische. Die Moral seines Berufsstandes nach dem Schwur des Hippokrates, der die Pflicht eines Arztes im „Leben retten“ und nicht im „Leben vernichten“ sah, war sein Lebensleitbild.
Im Herbst 1940 erhielt er seine Einberufung als Hauptstabsarzt in ein Kriegsgefangenenlager. Zunächst atmete er erleichtert auf.
Wenn schon Kriegsdienst, dann war dies die einzige Aufgabe, die er aus Überzeugung tun konnte. Er würde seine Bürgerpflicht erfüllen können, gleichzeitig aber seinem ärztlichen Ethos nicht zuwiderhandeln müssen.
Am Rande der Vorlesungen an der Universität waren die Festlegungen der Genfer Konvention ein Thema gewesen, aber in Friedenszeiten hatten sich die Medizinstudenten wenig damit befasst. Jetzt besorgte sich Dr. Seidel die entsprechenden Gesetzesblätter und vertiefte sich in der kurzen ihm verbleibenden Zeit in deren Inhalt.
In Kenntnis der Vereinbarungen begab er sich gefasst auf die Reise in das Lager Mühlberg, das ihm durch die Lage in geringer Entfernung von seiner Heimatstadt als eine zusätzliche, unverdiente Vergünstigung erschien. Vor welche praktischen Schwierigkeiten ihn diese Aufgabe stellen würde, ahnte er nicht. Er würde bald erkennen müssen, dass sein ärztliches Können und Wollen durch das Fehlen aller notwendigen medizinischen Hilfsmittel wenig wert war.
Ihm zur Seite standen in der Sanitätsabteilung des Lagers zwei Ärzte aus dem Sudetenland, Dr. Heilmann und Dr. Vratzky. Beide verhielten sich sehr zurückhaltend. Es war nicht zu erkennen, ob sie freiwillig und gern „Heim ins Reich“ gekommen waren, oder ob sie sich eher den Gefangenen anderer Nationalitäten verbunden fühlten.
Vor allem Dr. Heilmann beherrschte die deutsche Grammatik ausgezeichnet. Davon sollte Marcel später profitieren.
Die auffälligste Gestalt in der Sanitätsstube war Feldwebel Otto. Hermann Otto war überzeugter Nationalsozialist. Das hatte natürlich seine Gründe, denn zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm Anerkennung gezollt. Die Partei gab ihm das Gefühl eines eigenen Wertes, das ihm bisher versagt geblieben war.
Er hatte ein paar Semester Verwaltungsrecht studiert, war aber den Anforderungen eines Studiums nicht gewachsen gewesen und hatte aufgeben müssen. Auch eine andere Ausbildung hatte er nicht beendet, so dass er sich schließlich als Schreibkraft in der Gemeindeverwaltung seines Wohnortes mit einer bescheidenen Anstellung begnügen musste.
Er war ein Diederich - Hessling - Typ: nach oben buckeln, nach unten treten. Aber im Gegensatz zu seinem literarischen Ebenbild brachte ihm diese Haltung in seiner kleinen Gemeinde wenig Vorteile.
Die Oberen beachteten ihn kaum, und die Unteren gingen ihm aus dem Weg. Da er zu den Unteren auch das weibliche Geschlecht zählte, war eine kurze Ehe gescheitert, und nur die monatlichen Zahlungen für zwei Kinder erinnerten ihn an diesen Lebensabschnitt.
Aus diesem persönlichen Dilemma riss ihn die Partei. Er war schon 1933 Mitglied geworden und fand sich in ihrer Ideologie in all seinen Wesenszügen bestätigt. In der Sanitätsabteilung des Gefangenenlagers trat er bewusst als Parteigenosse auf und unterließ es nie, Propaganda zu betreiben.
Er hielt sich betont aufrecht, war immer korrekt gekleidet, gab sich stets militärisch, trat mit seinen hochglanzpolierten Stiefeln fest auf und sprach im Gegensatz zu Dr. Seidel sehr laut und meinte wohl, dadurch seine Bedeutung hervorkehren zu können.
Als Kalfaktor gehörte der Sanitätsabteilung der Gefreite Johannes Richter an. Er war ein Mitvierziger, der Älteste unter ihnen, und von entwaffnender phlegmatischer Art.
Im Privatleben arbeitete er als Tischler in einer Möbelfabrik. Er stammte aus einem kleinen Dorf der Oberlausitz und sprach den herrlichen rollenden Dialekt, so dass ihn Marcel so gut wie gar nicht verstehen konnte. Johannes war das, was man eine ehrliche Haut nennt. Auch er wäre lieber an seiner Hobelbank geblieben, da es Vater Staat aber anders beschlossen hatte, war er ohne zu murren zur Armee eingerückt.
Für ihn waren alle Menschen gleich, und so brachte er Marcel von Anfang an die Kameradschaft eines Kollegen entgegen, ohne auf dessen besonderen Status als Kriegsgefangener in irgendeiner Weise zu achten.
Er erledigte seine Aufträge exakt, nicht immer sofort, und hatte zwei Sätze bereit, mit denen er bisher bei allen Vorgesetzten bestens angekommen war. Mit dem einen Satz startete er jeden seiner Aufträge: „Doa wulln merr maol!“ Marcel hat noch nach Jahren zu Hause dieses Selbstkommando verwendet.
Der andere Satz lautete: „Doa sieh hahrr!“ Und keiner wusste zu deuten, ob diese Bemerkung Erstaunen, Kritik oder Zustimmung ausdrücken sollte. Seine ruhige Art entschärfte das Ottonische militärische Gebaren aufs einfachste, und Dr. Seidel gratulierte sich zu diesem einfachen, geraden Menschen in seiner Abteilung.
Marcels Arbeitstag inmitten dieser unterschiedlichen Menschen verlief in erträglicher Weise. Aufträge und Befehle erhielt er von jedem, und im Laufe der Zeit lernte er es, jeder Anforderung gerecht zu werden. Seine Hauptaufgabe war die Begleitung Dr. Seidels in die Lazarettbaracken, um zu dolmetschen. Das Dolmetschen an sich bereitete ihm keine Probleme, konnte er doch dabei seine deutschen Sprachkenntnisse nutzen und erweitern. Schrecklich für ihn aber waren die Krankenlager. Er hatte doch das Medizinstudium aufgegeben, weil er sich nicht zum Arzt berufen fühlte. Der Anblick leidender, stöhnender, fiebernder und sterbender Menschen bedrückte ihn zutiefst, so dass er oft hilflos vor seinen kranken Landsleuten stand. Mitunter war er nicht imstande, Leidenden ein freundlich aufmunterndes Wort zu sagen, obwohl er fühlte, dass sie dies von ihm als Sprachrohr des Arztes erwarteten. Gern hätte er mit ihnen über die ferne Heimat gesprochen, hätte ihnen von den hoffnungsvollen Bildern Romans erzählt. Aber all zu oft beschränkte sich sein Helfen auf die Probleme des täglichen Lebens, das Adressieren von Briefen oder das Abfassen von Anträgen. Die unterschiedlichsten Fragen der französischen Krankenpfleger, der französischen Ärzte und der Kranken mussten von ihm, ins Deutsche übersetzt, dem Stabsarzt vorgetragen, über alle im Lazarett auftretenden Probleme und Vorkommnisse berichtet werden. Auch in den Nachtstunden hatte er oft für dringende Einsätze bereit zu sein.
Die angenehmsten Stunden aber waren jene, in denen er mit schriftlichen Arbeiten betraut wurde. Dann hatte er die Anweisungen der Lagerordnung, die Entscheidungen der Ärzte und alle weiteren Bekanntmachungen und Befehle ins Französische zu übertragen, denn entsprechend den Bestimmungen der Genfer Konvention mussten alle Anordnungen den Gefangenen in ihrer Muttersprache übermittelt werden. Dann saß er an einem kleinen wackligen Tisch in der Ecke der Sanitätsstube. Dort war es ruhig und warm, manchmal gab es ein kleines Gespräch mit Johannes, und selbst die Ausfälle und gehässigen Bemerkungen des Feldwebels Otto waren besser zu ertragen als der Anblick der kranken Landsleute.
Eines Morgens stand auf dem Schreibtisch des Hauptstabsarztes ein Strauß frisch geschnittener Kiefernzweige und eine Kerze. Die Kerze stand in einer Untertasse, für die Zweige hatte man ein Bierglas gefunden. Wer diese Dinge dorthin gestellt hatte, blieb unbekannt. Außer dem Feldwebel Otto, dessen Kommentar: „Ach, die liebe Weihnachtszeit“, niemand beachtete, und dem „doa sieh hahrr“ des Johannes sagte keiner etwas, so dass die kleine Kerze ziemlich verlassen an ihrem Platz stand.
Aber wenige Tage später sah Marcel beim Betreten der Sanitätsstube Dr. Seidel am Fenster stehen und in die Weite der weißen Winterlandschaft schauen. Dr. Seidel hatte die Kerze angezündet, und ihr Schein spiegelte sich im Fensterglas und warf ein doppeltes Licht zurück. Auf diese Weise verbreitete sie weit mehr Helligkeit, als man hätte annehmen können. Bei Marcels Kommen reagierte der Arzt nicht sogleich. Er schaute sich langsam um, pustete die Kerze aus und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Der Rauchfaden des verglimmenden Dochtes hing noch im Zimmer, als wenige Minuten später Feldwebel Otto erschien. Mit seinem zackigen „Heil Hitler“ zerstörte er die leise Stimmung, die eben noch im Raum gelegen hatte.
Dr. Seidel erwiderte den Hitlergruß. Marcel bemerkte, dass es sehr mürrisch klang. Überhaupt meinte er beobachtet zu haben, dass sein Vorgesetzter manchmal versuchte, den Hitlergruß zu umgehen. Entgegen seinem sonst korrekten Verhalten bediente er sich dabei ein paar kleiner Tricks. Wenn er Feldwebel Otto kommen hörte, dessen lauter Schritt auf den hölzernen Barackenbrettern schon von weither hallte, griff er schnell zum Telefonhörer.
Während eines offenbar sehr wichtigen Gesprächs konnte er dem Grüßenden nur kurz zunicken. Manchmal aber überfiel er den Feldwebel noch während des Grüßens mit einer dringenden Aufgabe, redete schnell und befehlend auf ihn ein, so dass der Antwortgruß aus Zeitnot ausbleiben musste. Meistens allerdings erwiderte er den Hitlergruß, und nur dem still beobachtenden Marcel konnten diese Unterschiede auffallen.
Feldwebel Otto bemerkte, dass die Kerze gebrannt hatte, rümpfte die Nase, sagte aber nichts. Der Vormittag verging ohne weitere Zwischenfälle, niemand beachtete die kleine Kerze. Am Nachmittag musste Marcel Dr. Seidel in die Lazarettbaracken begleiten. Auf dem Hinweg hatte der Arzt wie üblich geschwiegen. Es war an diesem Tage bitterkalt, und der hartgefrorene Schnee knirschte laut unter ihren Stiefeln. Die Visite war wieder sehr aufreibend gewesen, denn die ärztlichen Anordnungen waren auf tröstende und aufmunternde Worte und Verbände beschränkt gewesen.
Auf dem Rückweg aber begann Dr. Seidel zu Marcels Verwunderung plötzlich ein Gespräch. Vielleicht drängte es ihn, seine morgendliche Sentimentalität zu erklären, vielleicht aber geschah es aus quälender Einsamkeit.
Paul Seidel bedrückte in diesen Adventstagen zutiefst die Erinnerung an friedliche Zeiten, die Sehnsucht nach einem freundlichen Umfeld, die Sehnsucht nach Hause. Er fühlte sich so schlecht, dass er mit jemanden sprechen m u s s t e. Vielleicht war ihm gar nicht bewusst, dass er seine Worte an einen Kriegsgefangenen richtete.
„In meiner Heimat, dem Erzgebirge, sind die alten Weihnachtsbräuche sehr lebendig. Die Bergleute haben sie mit ihrer großen Sehnsucht nach Licht geschaffen und wir Nachgeborenen pflegen und lieben sie. In dieser Zeit gehen wir oft in unsere Kirchen, in die liebenswerten kleinen Dorfkirchen genau so gern wie in die großen, prächtigen Bergkirchen. Dabei ist völlig belanglos, ob man gläubig ist, ob man sich zur Weihnachtsgeschichte und Christi Geburt bekennt oder nicht!“
„In Frankreich gibt es auch viele alte Kirchen. Es sind mächtige Kathedralen im Stil der Romanik und Gotik! Vor dem Transport nach Deutschland haben wir in Rouen vierzehn Tage lang auf dem Domplatz gelegen. Ein Freund hat die Kathedrale gezeichnet!“
Mit diesen Worten holte Marcel aus seiner Hosentasche Romans Skizze, glättete sie leicht und hielt sie dem deutschen Arzt hin.
Erstaunt schaute dieser auf das armselige Stückchen Papier, sah die unvollendeten Türme, den schlanken Vierungsturm, das filigrane Stützwerk und andeutungsweise die großen prächtigen Türen. Sah er die Trikolore, die aus einem der Fenster der benachbarten Häuser wehte?
„Ich erinnere mich, irgendwann einmal einen Bildband von den französischen Kirchen gesehen zu haben. Es waren Fotos von Kathedralen unterschiedlicher Baustile. Als Einleitung stand ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, das mir gut gefiel. Wie ging es doch gleich?
... in jenen kleinen Städten, wo herum die alten Häuser wie ein Jahrmarkt hocken, in jenen kleinen Städten kannst du sehn, wie sehr entwachsen ihrem Umgangskreis die Kathedralen waren!“
„Rilke hat mehrere Gedichte über die Kathedralen geschrieben, über die Portale, die Fensterrosen, die Kapitelle, die Heiligenfiguren. Er war fasziniert von diesen Bauten!“
„Hat er alle Kathedralen besichtigt, alle gekannt?“
„Er war eine zeitlang Sekretär Rodins und mit dem Bildhauer in der Normandie unterwegs, da sah er sie!“
„Ein Dichter kann seine Faszination in Worte fassen, ein Maler sich in Formen und Farben ausdrücken. Doch wir anderen? Was können wir? Wir legen unser Staunen auf die Altarstufen, Gott zu Füßen. Glauben Sie an Gott?“
Die Frage kam so plötzlich und unerwartet aus der Dunkelheit dieses Dezembernachmittags, dass beide, der Fragende und der Gefragte, erschraken. Der Fragende hätte, wäre es möglich gewesen, sie gern zurückgenommen. ‚Wie komme ich dazu, einen anderen Menschen nach seinem Glauben zu fragen, dazu habe ich kein Recht! Ich bin Offizier und Arzt, kein Geistlicher‘. Er war verwirrt und überlegte, ob er sich diese Frage vielleicht selbst gestellt hatte. Vielleicht beschäftigte sie ihn schon seit langem, seit dem Beginn dieses Krieges, seit er das Elend in diesem Lager sah.
Marcel war ebenso erschrocken. Auch er konnte sich nicht erinnern, wann man ihn, wann er sich, das letzte Mal nach seinem Glauben gefragt hatte. Er hätte mit ‚nein, ja, ich weiß nicht‘ antworten können, der Fragende hätte es nicht bemerkt. Dr. Seidel schien nicht auf eine Antwort zu warten, seine Gedanken gingen andere Wege, sie waren in die Heimat entflohen.
Aber als aus der Dunkelheit eine Antwort kam, eine über alle Maßen unerwartete Antwort, wandte er sein Gesicht überrascht der Stimme zu, die die Worte eines deutschen Dichters zu zitieren begann, und erfasst und ergriffen von diesem Augenblick stimmte er ein:
‚....Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: Ich glaub’ ihn?
Wer empfinden, und sich unterwinden zu sagen ich glaub ihn nicht?’
‚....Der Allumfasser, der Allerhalter, fasst und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?...’
‚....Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest? Und steigen freundlich blickend ewige Sterne nicht herauf?....‘
‚....Schau ich nicht Aug in Auge dir, und drängt nicht alles nach Haupt und Herzen dir? Und webt in ewigem Geheimnis unsichtbar, sichtbar neben dir?....‘
‚....Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, nenn es dann wie du willst!....‘
‚....Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafür!....’
Da liefen zwei erwachsene Menschen unterschiedlicher Nationen, der eine ein Sieger, der andere ein Besiegter, durch den einsamen dunklen Wintertag eines Kriegsgefangenenlagers und zitierten im wechselnden Dialog aus Goethes Faust. Und weder der Deutsche noch der Franzose hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worte des Dichters zu finden.
Es war gut, dass sie mit dem Ende des Zitates die Sanitätsstube erreicht hatten. Was hätten sie einander sagen sollen? Ein jeder fühlte den Nachklang, der einem Geständnis gleich beider Sehnsucht nach friedlichen Zeiten verraten hatte.
In den folgenden Tagen schien diese Begebenheit vergessen. Dr. Seidel hatte sich wieder in sein Schweigen zurückgezogen, und so wäre die Angelegenheit ein einmaliger seltsamer Zwischenfall geblieben, wäre Marcel nicht von einer wahnwitzigen Idee umgetrieben worden. Er grübelte und konnte kaum schlafen, weil er deren Ausführung ebenso oft verwarf wie erwog. Er suchte in seinem Gedächtnis den Text von Rilkes Gedicht über die Kathedralen. Aber obwohl der Professor seinerzeit immer verlangt hatte, dass die Studenten ein paar Verse in der Originalsprache lernten, waren ihm die Worte Rilkes, schwierig schon für einen Deutschen, entfallen.
Nur bruchstückhaft erinnerte er sich an Rilkes Verse.“...so griffen einstmals aus dem Dunkelsein der Kathedralen große Fensterrosen ein Herz, und rissen es in Gott hinein!“
Er musste einsehen, dass sein Vorhaben nicht durchführbar war, aber da er sich schon zu sehr damit befasst hatte, suchte er noch einmal Hilfe in Goethes Faust. So sorgfältig wie seine Aufregung es zuließ, schrieb er die ersten Verse des Osterspazierganges auf ein Blatt Papier.
Und so kam es, dass Paul Seidel an diesem Tage unter seiner Post ein handbeschriebenes Blatt fand, das da nicht hingehörte. Er begann zu lesen, und zu seinem größten Erstaunen las er:
Osterspaziergang
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche....
Marcel wagte nicht aufzuschauen, er zog seinen Kopf tief zwischen die Schultern und starrte auf sein Tischchen. Als er ganz leise Papier knistern hörte, konnte er ein leichtes Zittern nicht unterdrücken. Paul Seidel hatte den Osterspaziergang, so weit er niedergeschrieben war, gelesen. Er kannte ihn auswendig, Wort für Wort. Dann nahm er einen Bleistift zur Hand und ergänzte den fehlenden Teil. Leise und langsam faltete er das Blatt zusammen, ganz ordentlich auf DIN A5, A6, A7, A8, und steckte es in die Innentasche seines Uniformrockes. Die anderen im Raum hatten nichts bemerkt.
Als die Stunde zur Visite herankam und Paul Seidel mit Marcel allein auf dem Weg zur Lazarettbaracke war, zögerte er nicht, ein Gespräch zu beginnen:
„Sie kennen wohl den ganzen Faust auswendig, dazu auf deutsch?“
In seiner Stimme vermischten sich Neugier, Verwunderung, Bewunderung und Ironie.
„Nein, nur einige Passagen, die ich besonders gern mag!“
„Welche sind denn das?“
„Den Prolog im Himmel liebe ich sehr, besonders die Stellen, wo der Herr mit Mephisto spricht. Dann die Szene in der Studierstube, Sie wissen schon: ‚Habe nun ach, Philosophie usf.‘“
„Die mag ich auch sehr. Und natürlich den Osterspaziergang!“
„Und die Szene Mephisto mit Wagner, die ist einfach herrlich!“
„Und Auerbachs Keller, ja dort wäre ich jetzt gern!“
Sie waren so ins Schwärmen gekommen, dass sie verwundert innehielten, als sie vor der Lazarettbaracke standen. Auf dem Rückwege aber nahm Dr. Seidel das begonnene Gespräch noch einmal auf.
„Kennen Sie noch mehr aus der deutschen Literatur? Woher stammt Ihr Wissen, und wie ich vermute, ihre Liebe zu den Poeten?“
„Während meines Studiums in Nancy habe ich nebenher ein wenig Literaturgeschichte gehört, einfach aus Interesse. Schiller liebe ich fast noch mehr. Von ihm kenne ich einige Balladen!“
„Zitieren sie manchmal vor sich hin?“ fragte der Arzt. Er wusste, warum er das fragte. Wenn er sich zu schlecht fühlte, flüchtete er in eine andere Welt, die Welt der Dichter und Denker, und meistens half es ihm. Er tat es, wenn er nicht schlafen konnte, wenn ihn die Kriegsereignisse quälten, wenn er traurig war, wenn er an zu Hause denken musste.
„Ja, schon. Aber zuerst fallen mir da die Franzosen ein, oder die Philosophen!“
„Welche meinen sie?“
„Ich denke besonders an die alten Griechen!“
Die Wege in die Lazarettbaracke hatten plötzlich einen neuen Inhalt bekommen. Natürlich wussten beide, dass niemand ihre Gespräche belauschen durfte. Wie Schuljungen, die einen Streich aushecken, freuten sie sich auf jede unbeobachtete Gelegenheit des geistigen Austausches. Anfangs bedurften ihre Gespräche eines äußeren Anstoßes, auf den sie warteten, auf den sie lauerten. Es konnten die schwermütigen Lieder sein, die der Wind aus dem Lagerinneren herübertrug.
„Sie singen wieder“, sagte Paul Seidel. „Sie singen fast jeden Tag!“
„Es sind zwei Ukrainer, die auf sonderbare Weise in Polen gefangengenommen wurden! Ihre Lieder klingen traurig, aber oft sind sie es gar nicht!“
„Ich mag die slawischen Musikanten, auch ihre großen Komponisten! Tschaikowski, Rachmaninow!“ Ihre Melodien sind gefühlvoll, oft wehmütig, sie berühren mich sehr!“
Sie begannen ein Gespräch über Musik. Manchmal summten sie eine kleine Melodie, die ihnen gerade in den Sinn kam. Sie waren glücklich, wenn der andere sie kannte. Die Musikgeschichte schien ihnen ein unverfängliches Thema, und sie hielten sich lange Zeit daran fest.
Es konnte auch ein glitzernder Frosttag sein, der ihnen ein Thema eingab.
„Wie schön so ein Wintertag wäre“, sagte Paul Seidel, „wenn man ihn von seinem Umfeld trennen könnte!“
„Deutschland - ein Wintermärchen! Der es schrieb vor über hundert Jahren, war von seiner Deutschlandreise ebenso enttäuscht wie ich. Er wählte Frankreich zu seinem Wohnsitz aus!“
Leicht war ein Gespräch über Heinrich Heine nicht, aber sie tasteten sich heran, bemüht, einander zu verstehen, bemüht, einander nicht zu verletzen.
Wenige Wochen später aber konnten sie auf Diskussionsanstöße von außen verzichten. Sobald sie allein waren, stellte einer eine gezielte Frage, etwa: „Was halten Sie von Romain Rolland? Oder: Welche Dramen Shakespeares kennen Sie?“
Sie diskutierten sich durch die Literatur, die Philosophie, kamen an die eigenen Grenzen, erkannten, dass der andere manches nicht wusste, belehrten sich, stritten sich und hatten sich ein kleines Stück einer anderen Welt geschaffen. Im Laufe der Zeit verstanden sie sich ohne Worte, und oft genügte ein Blick, eine kleine Bewegung des Kopfes, um die Gedanken des anderen zu erkennen, die oftmals die eigenen waren.
Es kam der Frühling, ein wunderschöner milder Frühling. Sie erinnerten sich des „Osterspazierganges“, der als Mittler am Beginn ihrer Freundschaft gestanden hatte, und deklamierten ihn gemeinsam auf ihren Wegen.
Es kam der Sommer mit hohen Temperaturen. Am Lagerzaun wucherte das Unkraut, großflächig breiteten sich die Brennnesselfelder aus. Ihr strenger Geruch nervte Marcel so sehr, dass er die Gemüsesuppe, die daraus bereitet wurde, nicht mehr zu essen vermochte. Auch hinderte ihn das aufdringliche Kraut daran, dicht an den Lagerzaun zu treten, es sei denn, er missachtete den Biss ihrer Brennhaare, um ein Gespräch mit Neuankömmlingen zu führen. Wann immer es ging, zertrat er die schuldlose Pflanze, die ihm im Bunde mit den deutschen Wachsoldaten zu sein schien.
Das Leben im Lager ging seinen normalen Gang, soweit man es als normal bezeichnen konnte. Dr. Seidel hatte erkannt, dass die beste Hilfe, die er den erkrankten Gefangenen geben konnte, die Entfernung aus dem Lager war. Seine Bemühungen waren ständig darauf gerichtet, die beiden Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, voll zu nutzen.
Für operative Eingriffe, sehr dringende und schwere Fälle oder Facharztbehandlungen war es möglich, Kranke in die Lazarettabteilung eines Dresdner Krankenhauses zu überweisen. Die kranken Gefangenen wurden entweder mit dem Zug oder manchmal auch mit einem Militärfahrzeug dahin überführt. Um Verständigungsschwierigkeiten bei der Aufnahme vorzubeugen, musste Marcel oftmals die Fahrten begleiten. Die Leitung der Transporte oblag meistens Feldwebel Otto, was für Marcel weniger erfreulich war. Unbeobachtet konnte der Feldwebel seinen Hass auf den Feind, den Franzosen, ausleben. Marcel verhielt sich dann still, ließ den Feldwebel schimpfen und schaute, wenn es möglich war, aus dem Fenster des Fahrzeuges in das sommerliche Land. Für ihn waren diese Fahrten eine Abwechslung, die einzige Möglichkeit, das Lager für wenige Stunden verlassen zu können. Dann betrachtete er träumend die Dörfer, die Felder, die bald hügliger werdende Landschaft, und mit Verwunderung bemerkte er die Weinberge. Weinberge! Wie mochte in diesem Jahr der Wein in den elsässischen Bergen gedeihen?
Die Fahrt ging entlang des Flusses, elbaufwärts, und immer musste Marcel auf diesen Fahrten an Roman denken, der im entgegengesetzten Fließen des Wassers die Gewissheit der Heimkehr gesehen hatte. Wo mochte Roman sein?
Zum großen Bedauern Dr. Seidels war eine Überweisung in das Krankenhaus nur in den dringendsten oder lebensbedrohlichen Fällen möglich. Sehr wenige konnten auf diese Weise geheilt und gerettet werden.
Die zweite Möglichkeit bestand in der Heimsendung erkrankter Gefangener. In der Genfer Konvention waren die in Frage kommenden Krankheitsbilder detailliert aufgelistet. Die Entscheidung über die zur Heimsendung vorgesehenen Personen erfolgte in Zusammenarbeit der Ärzte unter der Federführung des Hauptstabsarztes.
Mit großem Engagement bemühte sich Dr. Seidel um die Bereitstellung der „Rot-Kreuz-Züge“, die in unregelmäßigen Abständen avisiert wurden. Oft telefonierte er stundenlang mit den vorgesetzten Stellen der Heeresleitung und mit den Roten-Kreuz-Einrichtungen, um einen Waggon zur Heimsendung über Mühlberg zu bekommen. Jedes Mal, wenn der Zug den kleinen Bahnhof verließ, atmete er erleichtert auf. Das waren die Stunden, in denen er am zugängligsten war. Nicht dass er lächelte, aber manchmal geschah es, dass er unerwartet eine persönliche Frage an seine Mitarbeiter richtete oder von seiner Heimat zu erzählen begann.
In einer warmen Sommernacht wurde Marcel zum Dolmetschen an das Krankenlager eines Gefangenen gerufen, der am Abend zuvor mit weiteren vier Erkrankten eingeliefert worden war. Der Kranke kam ihm bekannt vor, aber erst als er zu sprechen begann, wusste Marcel, wen er vor sich hatte. Aus dem kleinen grauen Gesicht schauten ihn zwei dunkle Augen traurig an.
„Siehst du, Marcel“, sagte Roman mit schwacher, müder Stimme und versuchte ein leises Lächeln, „ich wusste doch, dass wir uns wiedersehen werden!“
„Aber wie“, schrie es in Marcel, „Roman, was ist mit dir geschehen, wie siehst du aus, was haben sie dir angetan?“
„Ich habe wohl zu schwer arbeiten müssen, und sehr gefroren. Ich fühle mich elend und krank. Aber jetzt bin ich hier, und dich zu sehen macht mich sehr froh!“ erwiderte Roman.
Roman war dem Arbeitskommando einer Kohlengrube zugeteilt worden. Er gehörte zu den wenigen 2% der gefangenen Franzosen, die mit Arbeiten Untertage im Steinkohlenbergbau eingesetzt worden waren. Die Arbeit, an sich schon unbarmherzig hart für einen gesunden kräftigen Menschen, war für die schwache körperliche Verfassung Romans das pure Gift gewesen. Aber infolge seiner positiven Lebenshaltung hatte er viel länger unter der Erde ausgehalten, als man hätte annehmen können. Als er dann tags zuvor ohnmächtig zusammengebrochen war, hatte man ihn nach Mühlberg ins Lazarett gebracht.
„Immer wieder habe ich an dich denken müssen, Roman, du hast mir sehr gefehlt. Ich habe oft keinen Lichtschimmer sehen können wie du. Aber es ist mir gut gegangen hier als Dolmetscher des Stabsarztes. Was hast du arbeiten müssen? Hast du denn malen können?“
„Nur anfangs ein wenig. Später fand sich kein Papier mehr und ich war immer zu erschöpft!“
Roman kramte in seinem Rucksack und reichte Marcel ein paar Skizzen. Marcel sah, dass Roman sich treu geblieben war. Auffällig war allerdings, dass die Kumpel meist beim Ausfahren aus der Grube gezeigt wurden, wenn der erste Strahl des Tageslichtes sie traf. Viele der armseligen, dürren Gestalten gingen gebückt, sahen zu Boden, und man konnte ihnen die Erschöpfung ansehen. Sie sahen nicht, was der Maler sah und ihnen vielleicht auch gern hatte zeigen wollen. Denn er ging aufrecht, hatte den Kopf erhoben und wandte sein Gesicht dem Licht, der Sonne, dem Wind, dem Leben zu. Roman hatte auf seinen Skizzen immer blühende Bäume, spielende Kinder, ferne Berge, plätschernde Bäche dargestellt, als wäre das die helfende Medizin, deren die entkräfteten Menschen bedurften.
Marcel fragte Dr. Seidel: „Was fehlt ihm? Ist er sehr krank? Hat er eine Chance? Wird er genesen?“
„Wir werden ihn sobald als möglich nach Hause schicken, damit er die klare Luft der französischen Berge einatmen kann“, erwiderte Dr. Seidel, und er sah bekümmert aus. Roman hatte Tuberkulose.
Am nächsten Tag entwendete Marcel in der Sanitätsstube einen Bleistift und ein paar Bogen Schreibpapier und brachte alles Roman.
„Der Doktor sagt, er wird dich nach Hause schicken, sobald wieder ein Transport nach Frankreich abgeht. Ich freue mich für dich, der Krieg und die Gefangenschaft werden für dich vorbei sein. Zu Hause wirst du schnell gesunden. Mal schon mal immer deine Heimfahrt, das wird dir helfen und dich aufmuntern!“
Roman malte seine Heimfahrt. Er malte einen Waggon, der ohne Lokomotive auf einem Gleis dahinrollte. Im Waggon, der fensterlos war, hockte in einer dunklen Ecke eine einzige kleine verlassene Gestalt. Und da wusste Marcel, dass Roman sterben würde. Und das schlimmste war, dass er begriff, dass Roman das auch wusste.
An der Beerdigung durfte Marcel mit anderen Kriegsgefangenen teilnehmen. Sie fand auf dem Friedhof des nächstliegenden Dorfes statt.
Romans Sarg wurde in der kleinen Friedhofskapelle aufgebahrt, und sein Name in einem Gräberbuch verzeichnet. Dem Trauerzug, zu dem auch ein aus drei Soldaten bestehender Ehrenzug der Deutschen Wehrmacht gehörte, wurde ein Kreuz zur Grabstätte vorangetragen.
Bestattet wurde Roman in einem Einzelgrab, ein Holzkreuz mit seinem Namen bezeichnete den Platz seines Grabes neben den vielen anderen, die vor ihm in der Gefangenschaft gestorben waren.
Marcel legte ein paar am Wege gepflückte Blumen auf Romans Grab. Traurig stellte er fest, dass man dem toten Feind mehr Aufmerksamkeit widmete als dem lebenden.
Später sollte sich das Zeremoniell ändern: es gab keine Blumen mehr, keine einzelnen Grabstellen, sondern Massengräber.
In der darauf folgenden Woche bekam Marcel von Anne einen Brief nachgesandt. Den Bestimmungen der Genfer Konvention entsprechend gab es regen Brief- und Paketverkehr im Kriegsgefangenenlager. Der Brief war in Deutschland aufgegeben worden, aber an Marcels Heimatanschrift adressiert. Der Absender war Michel.
Lieber Marcel,
schon immer wollte ich dir schreiben. Ich weiß nicht, wo du bist, vielleicht zu Hause, vielleicht noch in Deutschland. Ich habe so oft an dich und Roman denken müssen und immer gehofft, dass ihr beide es ebenso gut getroffen habt wie ich, natürlich abgesehen von allen Kriegsumständen.
Der alte Bauer, der mich in Mühlberg geholt hat, brachte mich noch am selben Tage auf diesen Bauernhof ganz im Osten Deutschlands, und da bin ich noch. Auf dem Hof sind außer dem Altbauern und seiner Frau nur noch seine Schwiegertochter mit einer 11- jährigen Tochter, der Anna. Der Mann und der Sohn sind im Krieg. Du kannst dir vorstellen, dass es da eine Menge Arbeit gibt, und ich habe gearbeitet, fast so, als wäre es mein eigener Hof. Über die Behandlung kann ich mich nicht beklagen, ich habe sogar eine eigene kleine Knechtkammer, und mein Essen nehme ich in der Küche mit der alten Magd ein. Sicher darf niemand wissen, dass wir manchmal alle zusammen sitzen, wie es sich ergibt.
Leider verstehe ich die Leute nicht, denn einmal sind meine Deutschkenntnisse sehr ärmlich, zum anderen sprechen die Leute hier einen merkwürdigen Dialekt.
Manchmal aber kommt die kleine Anna und gibt mir Unterricht. Das ist sehr lustig, ich sage ihr die französischen, sie mir die deutschen Worte. Und da sie ein sehr fleißiges Mädchen ist, führt sie Buch, und ich muss die Worte wiederholen. So habe ich schon eine ganze Menge gelernt. Gewundert habe ich mich, dass die Bäuerin nichts dagegen einzuwenden hat. Aber sie hat selbst so viel Arbeit und Kummer und es ist schön, wenn einem ein fremder Mensch vertraut.
Seit ein paar Tagen wird hier erzählt, dass wir repatriiert werden sollen. Man weiß nur nicht genau, wer nach Hause kommt. Es wäre zu schön, könnten wir dabei sein und uns in Rennes, wie vereinbart, treffen. Ich habe auch an Roman geschrieben und freue mich sehr auf seine Bilder, die er unterdessen gemalt haben wird.
Lieber Marcel! Bitte melde dich, solltest du zu Hause sein, ich werde es auch tun!
Herzliche Grüße Dein Michel, der Bauer!
Marcel hielt Michels Brief in den Händen und sah den großen, kräftigen Burschen vor sich. Michel hatte Glück gehabt. Marcel stellte sich ihn auf dem deutschen Bauernhof vor, wie er schimpfte und fluchte, wenn es nicht ging, wie er wollte. Michel würde großen Spaß daran haben, zumal ihn ja niemand verstand. Ein wenig beneidete er ihn auch um die eigene Kammer, auch um die Gesellschaft eines kleinen Mädchens. Er sah den Bauernhof mit den Ställen, dem Misthaufen, dem großen Hoftor und den blumengeschmückten Fenstern, wie er ihn von zu Hause kannte, vor sich. Hinter dem Kräutergarten würde die Wiese mit den Obstbäumen sein, und plötzlich erfasste ihn ein solches Verlangen, sich nach einem Apfel zu bücken, ihn aufzuheben, an der Hose zu reiben und kraftvoll hineinbeißen. Die Sehnsucht nach einem normalen Leben erschütterte ihn so sehr, dass Dr. Seidel ihn am Nachmittag verwundert fragte, ob er krank sei.
Marcel erzählte von Michels Brief und dem Gerücht der Repatriierung. „Ja“, erwiderte Dr. Seidel, „dafür gibt es detaillierte Vorschriften. Mit der Vichy-Regierung ist ein Abkommen geschlossen worden, dass ältere Gefangene, Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, Kinderreiche, Vertreter bestimmter geistiger Berufe und Bauern nach Hause geschickt werden können. Da hat Ihr Freund großes Glück , dass er ein Bauer ist!“
Die Heimsendung
Im beengten Raum der Sanitätsbaracke konnte der freundschaftliche Umgang des Hauptstabsarztes mit seinem französischen Dolmetscher natürlich nicht verborgen bleiben. Die deutschen Mitarbeiter fühlten sich in dieser Atmosphäre ausgesprochen wohl, bis auf einen. Feldwebel Otto hatte sein lauschendes Ohr überall. Er wartete beharrlich auf den Augenblick, da die Gelegenheit zu einer Meldung über das „undeutsche Verhalten“ des Hauptstabsarztes kommen würde.
Johannes und die sudetendeutschen Ärzte erfüllten indes ihre Aufgaben ebenso korrekt wie ihr Vorgesetzter, und ihr Umgang mit dem französischen Kriegsgefangenen orientierte sich an seinem Vorbild. Wenn es die Zeit erlaubte, erteilte Dr. Heilmann Marcel Deutschunterricht, denn er verstand es ausgezeichnet, die verzwickte deutsche Grammatik zu erläutern. Manchmal fand Marcel irgendwo eine absichtlich vergessene Tageszeitung, so dass er sich über den Fortgang des Krieges informieren konnte. So herrschte in der Lazarettabteilung ein sachlicher, aber alles in allem freundschaftlicher Ton. Doch bald sollte sich alles ändern.
Eines Tages, es roch draußen schon ein wenig nach Frühling, fand Dr. Seidel in seiner Post seine Abkommandierung an die Ostfront. Das Schreiben war kurz und sachlich. Zunächst wurde ihm für seine bisherige Arbeit gedankt, eine Woche Heimaturlaub gewährt und der Termin seines Dienstantrittes an der Ostfront auf die drittfolgende Woche datiert. In einem beigefügten Schreiben wurde er angewiesen, seinen Nachfolger, einen Chirurgen namens Dr. Herbert Braun in die Arbeit einzuweisen. Die Ankunftszeit des Dr. Braun wurde nicht genau genannt, die Mitteilung lautete: in den nächsten Tagen.
Dr. Seidel war sehr betroffen, denn dieser Befehl traf ihn völlig unvorbereitet. Er musste erst einmal selbst damit fertig werden und unterließ die sofortige Information seiner Mitarbeiter. Sein Schweigen sollte unangenehme Folgen haben.
Dr. Braun war der geborene Herrschertyp. Wo er auftauchte, war er der Führer. Er war ein bulliger Kerl, mit einer vollen, laut dröhnenden Stimme. Seine Untergebenen fand er überall. Er brauchte sie, missbrauchte und verachtete sie. Wer sich ihm entgegenstellte oder zu protestieren wagte, wurde zertreten, und er zertrat mit Lust. Er verabscheute weder Gesetzesbruch noch Lüge oder Verleumdung.
Dabei war er ein guter Fachmann, ein hervorragender Diagnostiker und ein glänzender Chirurg. Ein Arzt war er nicht. Er konnte sich durchaus freuen, wenn ihm eine besonders schwierige Operation gelungen war, aber er betrachtete seine Patienten gewissermaßen als seine „Werkstücke“.
Seine Umgangsformen waren miserabel, besser gesagt, er hatte keine. In Offizierskreisen war er daher nicht gern gesehen, nicht selten wurde er sogar gemieden.
Er verstand es vortrefflich, diesen Nachteil durch seine Parteizugehörigkeit zu kompensieren. Sein Auftreten verschaffte ihm überall Respekt, Gehorsam, ja Angst. Er war ein treuer Anhänger der NSDAP. Ihre Dogmen fanden seine vollste Bejahung.
Irgendwann war er über einen politischen Witz gestolpert, so dass seine Abordnung nach Mühlberg vielleicht auch eine Art „Versetzung“ war.
Als er in Mühlberg ankam, war Dr. Seidel gerade im Gelände unterwegs und nicht sogleich auffindbar. Warten war der Natur des Dr. Braun zuwider, so dass er sich allein, begleitet von einem Unteroffizier, in den Lazaretttrakt begab. Der Zufall wollte es, dass sich Marcel allein in der Sanitätsstube aufhielt, als Dr. Braun plötzlich mitten im Raum stand. Zu seiner größten Überraschung und Missbilligung fand er dort nur einen Kriegsgefangenen vor.
Marcel erhob sich, schaute den fremden Offizier an und nannte seinen Namen.
„Marcel S.“
„Und was haben Sie hier zu suchen?“
„Dolmetscher und Sekretär des Hauptstabsarztes.“
„Und?“
„Franzose“
„Und, und?“
Marcel zuckte die Schultern und erwiderte: „Und weiter nichts“, und wiederholte den letzten Satz unbewusst in seiner Muttersprache, da er nicht wusste, was er noch sagen sollte. Diese ihm unverständlichen französischen Worte empörten Dr. Braun über alle Maßen. Er sah den Franzosen ungläubig und herausfordernd an. Aber von Marcel kam weiter kein Ton. Er schwieg eisern. Wie sollte er auch wissen, dass Dr. Braun entgegen den Vereinbarungen über den Umgang im Lager eine Meldung verlangte, mit etwa folgendem Wortlaut: „Der Kriegsgefangene Marcel S. meldet sich zum Dienst, Heil Hitler!“ Wobei Dr. Braun im Irrtum war, denn diese Art Meldung war für die Gefangenen nicht üblich.
Dr. Brauns Gesicht rötete sich, er holte, um einige Tonlagen lauter schon, zu einem weiteren: „Und?“ aus, bekam aber wieder keine Antwort. Marcel fühlte sich von dem Mann, von dem er nicht wusste, warum er ihn befragte, angegriffen und das drückte sich in seiner trotzigen Haltung und seiner eisigen Miene unmissverständlich aus. Damit brachte er Dr. Braun völlig aus der Fassung.
Wütend brüllte er ihn an: „Du unverschämter Kerl, du Franzose! Verweigerst die Ehrenbezeugung? Es ist wohl sehr angenehm in der Sanitätsbaracke, schön warm, was? Deine Hände sehen aus, als hättest du noch nie richtig gearbeitet. Das werden wir schnellstens ändern. In den deutschen Salz- oder Kohlengruben wird man dir zeigen, was Arbeit ist. Es wird eine meiner ersten Anordnungen sein, dich einem entsprechendem Arbeitskommando zuzuteilen! Bodenlose Frechheit! Raus hier!“
In diesem Augenblick, oder schon ein wenig früher, betrat Dr. Seidel in Begleitung von Feldwebel Otto und Johannes die Dienststube. Wahrscheinlich hatte er diesen Auftritt schon miterlebt, ging aber mit keiner Bemerkung darauf ein.
„Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ, Herr Dr. Braun. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin Dr. Seidel, Hauptstabsarzt!“
Er reichte ihm kurz die Hand, dann stellte er seine Mitarbeiter vor.
„Ich möchte Ihnen unsere Leute vorstellen. Feldwebel Otto“, der die Situation entschärfte, indem er Haltung annahm und Dr. Braun mit „Heil Hitler“ ordnungsgemäß begrüßte. Johannes tat es auch. Dr. Braun blickte noch immer finster, als Dr. Seidel fast leichthin hinzufügte: „Mit unserem Dolmetscher haben Sie sich schon bekannt gemacht. Er ist für uns unentbehrlich, denn hier im Lager sind sehr viele Franzosen. Leider spreche ich nicht französisch. Können sie es?“
Dr. Braun schaute nun auch Dr. Seidel vernichtend an.
Die Frage musste er verneinen, fügte aber kalt hinzu, dass dies unwichtig sei.
Dr. Seidel ließ sich auf keine Diskussion ein, denn er musste jetzt seine Versetzung bekannt geben. Er schaute niemanden an, sondern sagte leer in den Raum hinein: „Dr. Braun ist der künftige Hauptstabsarzt. Ich werde Mühlberg verlassen!“
Ohne eine Reaktion abzuwarten wandte er sich an Feldwebel Otto: „Begleiten Sie bitte Herrn Dr. Braun in die Lazarettbaracken. Ich werde sofort nachkommen, wenn ich diese zwei äußerst wichtigen Telefonate erledigt habe!“
Mit diesen Worten hatte er schon den Telefonhörer abgenommen und wählte die Nummern. Dr. Braun und Feldwebel Otto verließen den Raum. Als sie gegangen waren, schaute Johannes den Stabsarzt unendlich traurig an und sagte: „Ich möchte am liebsten mit Ihnen gehen, Herr Stabsarzt, hier wird es ohne Sie schrecklich sein!“
„Ich auch“, brach es aus Marcel heraus. „Ich muss hier fort. Dieser Mann wird mich vernichten. Ich muss schnellstens fort, ehe er seine Drohungen wahrmachen kann. Untertage gehe ich zugrunde, genau wie Roman. Ich werde nicht wieder nach Hause kommen. Ich muss hier fort!“ Er hatte diese Sätze in seiner Muttersprache gesagt.
Dr. Seidel aber antwortete nicht.
An einem der nächsten Tage arbeitete Marcel an einer Übersetzung. Es war wieder ein Sanitätszug nach Frankreich angekündigt worden und vor ihm lag die Namensliste derer, die nach Hause gesandt würden. Er hatte für jeden Gefangenen die Krankenkartei für den Transport ins Französische zu übertragen. Zwanzig Namen standen auf der Liste. Er arbeitete schnell, kam gut voran, denn diese Aufgabe stimmte ihn fröhlich.
An viertletzter Stelle der Liste stand sein eigener Name. Diagnose: Herzmuskelerkrankung in fortgeschrittenem Stadium.
Vor seinen Augen begann es zu flimmern, ihm schwindelte, sein Atem stockte, der Schweiß brach aus allen Poren. Er riss das Fenster weit auf, und im gleichen Augenblick ergoss sich die eisige Luft des nass-kalten Frühlingsnebels auf seinen schweißnassen Körper und innerhalb weniger Minuten vollführten abertausend Bakterien und Bazillen ihr Werk.
Am nächsten Tag schon begann er zu fiebern, und selbst der ihm so feindlich gesinnte Dr. Braun sah, dass dieser Mann krank war. Er schickte ihn in seine Schlafbaracke zurück.
Marcel fühlte sich sehr elend. Die Glieder schmerzten, der Kopf war ein riesiges Wagenrad, der Hals geschwollen. Schon am Nachmittag war das Fieber auf 39 Grad gestiegen, so dass man ihn ins Lazarett verlegte.
Am Abend kam Dr. Seidel in Begleitung von Feldwebel Otto. Er legte ihm zunächst die Hand auf die heiße Stirn und schaute ihn lange an. Dann holte er sein altes hölzernes Hörrohr aus der Uniformjacke und hörte ihn ab. Aus den leise gemurmelten lateinischen Diagnosebrocken erfuhr Marcel zu seiner großen Erleichterung, dass sowohl pulmo als auch cor o. B. seien, sein Zustand aber auf eine schwere Influenza mit Kreislaufbelastung zurückzuführen sei. Dann griff Dr. Seidel nach Marcels Handgelenk, und indem er vortäuschte, seine Pulsschläge zu zählen, drückte er dem Freund fest die Hand.
Die Untersuchung war genau so verlaufen wie an den anderen Krankenlagern, und Feldwebel Otto sah keinen Grund für eine Meldung, so sehr er auch darauf spannte. Nur der Arzt und sein Dolmetscher wussten, dass es in Wahrheit keine völlig normale Untersuchung war, und dass sie beide darüber schweigen würden. Sie schauten sich an und wussten, dass es der Abschied war. Sie hätten einander noch vieles sagen und wünschen wollen, aber da sie schweigen mussten, war es gut, dass sich ihre Blicke verstanden.
Nachdem der Arzt gegangen war, weinte Marcel in seine Decken hinein, und hätte man ihn gefragt, warum, hätte er nicht zu sagen gewusst, dass es vor Glück war.
Am übernächsten Tag stand der Rot-Kreuz-Waggon bereit. Marcel wurde auf eine Transportliege gelegt und zum Bahnhof gefahren. Er schaute aus dem Fenster des Militärautos und erinnerte sich an seine Ankunft vor 18 Monaten, an den vielen Schnee, an die Trostlosigkeit dieses Tages. Wehmütig dachte er an Roman, den er in der kalten Erde der Fremde zurücklassen musste. Vor seinem Auge entstand das Bild der Kathedrale von Rouen, wo der Leidensweg in die Gefangenschaft begonnen hatte. Keiner würde je so ein Bild malen, wie es Roman skizziert hatte. Marcel freute sich sehr auf die Heimat, aber die Erinnerungen, die bösen und die guten, quälten ihn sehr. Letztendlich aber siegte seine Jugend, so dass er während der Fahrt zusehends genas. Die junge Rot-Kreuz- Schwester Hanna sagte: „Das ist die Freude, sie ist immer die beste Medizin!“ Nach zwei Tagen war Marcel fieberfrei, wenn auch sehr geschwächt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr die Gefangenschaft ihn verändert hatte. Er schaute aus dem Fenster auf die deutschen Dörfer und Städte, die vorüberflogen, die er doch immer hatte kennen lernen wollen, und nun doch wieder nicht wirklich sah. Er fragte Hanna nach deren Namen, aber im gleichen Augenblick vergaß er sie wieder. Hanna riet ihm, sich zu Hause in einem Krankenhaus gründlich untersuchen zu lassen. Und das tat er dann auch. Als er das Pariser Krankenhaus nach ein paar Wochen verließ, war er zwar nicht völlig geheilt, aber der Krieg war für ihn vorbei. Er kehrte zu Anne in die Bretagne zurück, und sie pflegte ihn mit viel Geduld, so dass er langsam genas.
Wäre er zu seinen Eltern in die elsässische Heimat gegangen, hätte ihm neues Unheil gedroht.. Er entging dem Schicksal vieler seiner elsässischen Landsleute, die ab August 1942 in die deutsche Wehrmacht „zwangseingezogen“ wurden. Schon im Juni 1941 wurde das Elsass offiziell dem „Großdeutschen Reich“ angeschlossen und mit Baden zum Rheingau erklärt. Dies war zwar ein grober Verstoß gegen das Völkerrecht, erlaubte den Deutschen aber die Zwangseinziehung der jungen Elsässer in die Wehrmacht. Sie brauchten Soldaten, denn sie hatten einen Tag später mit dem Unternehmen „Barbarossa“ den Angriff auf die Sowjetunion begonnen. Die Vichy-Regierung schwieg. In einzelnen Dörfern des Elsass regte sich Widerstand, junge Männer verweigerten die Unterschrift in den Wehrpass und wurden letztendlich durch Gewalt und Inhaftierung doch dazu gezwungen, deutsche Soldaten zu werden. Man nannte sie die „Malgre nous“, die wider ihren Willen Rekrutierten.
Marcel dachte an Michel, der möglicherweise auch dazugehören könnte.
Für den deutschen Arzt Dr. Seidel aber dauerte der Krieg noch drei Jahre.
Während Marcel noch leicht fiebernd, aber voller Freude in westliche Richtung heimwärts rollte, fuhr Dr. Seidel ostwärts. Er hatte den Dienstwagen, der ihn zum Bahnhof bringen sollte, abgelehnt und ging zu Fuß. Er wollte allein sein, er musste über seine Handlungsweise Klarheit gewinnen. Was er getan hatte entsprach nicht völlig den Bestimmungen der Genfer Konvention. Um Marcel nach Hause schicken zu können, hatte er ihm eine Krankheit angedichtet, er hatte gelogen, bewusst und mit Absicht. Er fühlte sich schuldig, schuldig als Arzt, nicht aber als Mensch. Wie sehr er auch in sich hineinhorchte, bereuen konnte er sein Handeln nicht. Erstaunt stellte er fest, wie sehr der Krieg ihn verändert hatte.
„Dieser verdammte Krieg“, rief er in die weite einsame Ebene hinaus, und es war gut, dass weder Feldwebel Otto noch der neue Stabsarzt Dr. Braun diesen Schrei hören konnten.
Sieben Tage Heimaturlaub waren ihm genehmigt worden, aber er fühlte sich zu Hause wie ein Fremder. Verloren ging er durch seine Praxis, setzte sich an den verwaisten weißen Schreibtisch, strich mit der Hand über verschiedene ärztliche Instrumente. Und es war, als gehöre er nicht mehr hierher, als wäre die Arbeit in den hellen Räumen nicht mehr sein Lebensinhalt.
Er dachte an die düsteren Baracken, in denen ihm aus den Augen der Kranken und Verwundeten Verzweiflung und doch auch Vertrauen und Hoffnung entgegensahen. Er wusste, dass sein Platz dort sein würde und konnte kaum glauben, dass seit seiner Einberufung erst ein reichliches Jahr vergangen war.
Bevor er abreiste, nahm er aus seinem Bücherregal die Reclamausgabe des Faust und steckte sie in seine Brusttasche. Sie würde ihm in den schlimmsten Stunden, die kommen würden, nicht nur Entspannung, sondern auch Erinnerung sein.
An der Ostfront erfüllte er seine Pflicht unter gleicher Aufopferung, aber unter größerer Lebensgefahr. Das Ende des Krieges hat er nicht mehr erlebt. Wenige Wochen vor der Kapitulation Hitlers erlag er seinen schweren Verwundungen.
Sein Bruder Marcus aber überlebte und kam im Sommer 1945 nach Hause. Er war bei Kriegsende in holländische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er entfliehen konnte. Auf abenteuerlichen Wegen erreichte er sein kleines Erzgebirgsdorf.
Aber der Krieg holte auch ihn ein. Mit seinen beiden Lehrerkollegen wurde er im Oktober 1945 von der sowjetischen Geheimpolizei während des Unterrichtes verhaftet. Und nach Mühlberg gebracht.
Die sowjetische Geheimpolizei hatte das ehemalige Kriegsgefangenenlager für sehr geeignet befunden, um nun ihrerseits ein Lager für Deutsche einzurichten, eines der 10 Speziallager zur Einkerkerung derer, die nach ihrem Verständnis die Schuld am Krieg trugen.
Die Sowjets hatten die Genfer Konvention nicht unterschrieben, sie führten das Lager nach ihren eigenen Vorstellungen. Es gab keine eigentlichen Verhaftungen, keinen Postverkehr, kein Beerdigungszeremoniell. Als Marcus starb, wurde er wie die vielen anderen am Rande des Stacheldrahtzaunes verscharrt. Paul Seidel aber hat davon nichts mehr erfahren.
Die Antwort
Die Chemielehrerin Julia S. ist wie jeden Mittwoch gegen 14 Uhr aus der Schule nach Hause gekommen. Das Unterrichten macht ihr Freude wie immer, aber allmählich spürt sie die Jahre. Sie geht auf die Sechzig zu, und es zeigt sich das Alter meist in der Erschöpfung nach getaner Arbeit. Im Umgang mit den jungen Menschen ist sie wach, aktiv, ist sie jung. Die Schüler sind aufgeschlossen, erwachsener, stellen Forderungen, mögen sie.
Wenn sie nach Hause kommt, am frühen oder späten Nachmittag, ist sie müde. Sie gönnt sich eine Pause nach folgendem Ritual: Tasche in die Ecke, Schuhe aus, niederfallen in den alten bequemen Sessel, Beine hoch, Augen zu. Nach einigen Minuten der Entspannung greift sie nach der Tageszeitung. Die Zeitungen sind im Jahr 1995 interessant. Nicht wie vor der Wende, da sie ausschließlich die unsichtbaren Erfolge der Regierenden besangen. Lächelnd erinnert sie sich, dass ihre Tochter eine zeitlang die täglichen Honeckerfotos zu zählen pflegte. Einmal kam sie auf achtzehn. Die Angewohnheit, die Zeitung von hinten zu lesen, hat sie sich nicht abgewöhnt. Manche Artikel merkt sie sich zum späteren Studium vor, denn schon überfällt sie eine leise Schläfrigkeit. Sie will die Zeitung zur Seite legen, als ihr die Überschrift „Lebensretter gesucht“ ins Auge fällt.
Es ist Marcels Suchanzeige.
Der Dresdner Bürgermeister hatte sie an die Tageszeitungen zur Veröffentlichung gegeben.
Julia ist plötzlich hellwach. Mühlberg! Den Namen dieses Ortes hat sie vor langer Zeit aus dem Munde der Mutter gehört. Es ist lange her, sehr lange her. Dieser Ort war für das Kind Julia identisch mit dem Verschwinden des Vaters. Später, als sie heranwuchs, geriet der Name in Vergessenheit. Das eigene Leben - Studium, Beruf, Familie - übertönte die Vergangenheit.
Julia ist ohne Vater aufgewachsen. Als er einberufen wurde, war sie vier Jahre alt. Sie kann sich seiner kaum erinnern, kennt sein Gesicht nur von zwei vergilbten, über die Bombennacht geretteten Fotos. Aber der uniformierte Offizier darauf ist ihr fremd. Es ist eine andere Vatergestalt, deren Erscheinung sich ihr eingeprägt hat bis zum heutigen Tag.
Es ist ein Mann in einer unendlich weißen Umgebung, weißen Räumen, weißen Schränken, weißen Kitteln, weißen Hosen. Das viele Weiß, das ihn umgab, ist in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Und der Geruch der Tabakspfeife! Wenn der Tabaksduft durch die Räume der großen Wohnung zog, wusste man, dass der Vater zu Hause war.
Als er 1940 eingezogen wurde, wurden die weißen Räume zugeschlossen, für immer. Die Bomben löschten sie aus. Julia und ihre Mutter gehörten zu denjenigen, die in der Bombennacht am 13. 2. 1945 in Dresden ihr Leben retten konnten, ihr nacktes Leben. Das Haus brannte, die Mauern stürzten ein, aber die Kellereingänge konnten freigeschaufelt werden. Sie krochen heraus und fanden eine Unterkunft in einer fremden Wohnung der äußeren Neustadt. Sie lebten lange Zeit in einem einzigen Raum.
An die Ruine ihres zerstörten Hauses hefteten sie einen Zettel. Sie hofften, dass der Postbote sie finden würde, wenn es auch dauern konnte, denn das Postamt lag auch in Trümmern.
Sie warteten auf eine Nachricht von der Front, von der Ostfront, wo der Krieg tobte, wo der Vater war. Sie hatten ihm gleich geschrieben, damit er sich da draußen nicht sorgen solle, wenn er von der Zerstörung Dresdens erfuhr. Sie hinterließen ihre neue Anschrift bei den Großeltern.
Sie warteten vergebens. Sie konnten nicht wissen, dass der Vater sich keine Sorgen machte, denn er war nicht mehr am Leben. Niemals werden sie erfahren, ob er vom Schicksal Dresdens, von der Zerstörung seiner Praxis Kenntnis bekam, ob er noch einmal geschrieben hatte.
Erst nach drei Jahren wird ein fremder Mann, der ihn sterben sah, ihnen die Nachricht seines Todes überbringen.
In der Annonce wird ein Arzt gesucht. Ein Arzt! Ihr Vater war Arzt. Am Anfang des Krieges war er Arzt in einem Kriegsgefangenenlager. War es Mühl-berg? Sicher doch, denn warum sollte der Name dieses Ortes ihr sonst so im Gedächtnis geblieben sein. Mühlberg! Wann war er in Mühlberg? Könnte der Gesuchte ihr Vater sein?
Julia versucht sich an die Erzählungen der Mutter zu erinnern, die fünfzig Jahre zurückliegen. Könnte sie nur die Mutter fragen, aber die Mutter lebt nicht mehr.
Sie erinnert sich einer Kinderfrau, die noch lebt. Vielleicht weiß sie mehr. Sie wird die Kinderfrau aufsuchen, wenn es auch wenig erfolgversprechend ist. Die Kinderfrau ist krank, hat Gedächtnisstörungen, Angstkomplexe. Aber manches weiß sie auch ganz genau, vielleicht kann sie sich doch erinnern, besser als ich..
Es könnte mein Vater gemeint sein, es könnte mein Vater sein! Julia läuft auf und ab, sie ist schrecklich aufgeregt, sie findet keine Ruhe.
Da ist ein alter Mann in einem anderen Land, dem dieser Brief wichtig war. Dieser Mann findet auch keine Ruhe. Er fühlt sich noch heute, fünfzig Jahre danach, dem deutschen Arzt zu Dank verpflichtet. Es muss ihm dieser Gesuchte viel bedeutet haben. Würde er ihn sonst suchen lassen nach so langer Zeit? Vielleicht ist mein Vater der Gesuchte, vielleicht nicht.
Was weiß ich eigentlich über meinen Vater? Nichts, ich war zu klein. Ich könnte etwas über ihn erfahren, was für ein Mensch er war, was er dachte, was er tat! Da ist einer, der ihn kannte, der ihn vielleicht kannte.
„Natürlich“, sagt die alte Frau, „damit ist dein Vater gemeint. Er war doch von 1940-42 Lagerarzt in Mühlberg. Dann kam er an die Ostfront. Ob dort auch Franzosen eingesperrt waren, weiß ich nicht, vermutlich doch. Aber dass er jemandem geholfen hat, wenn er es konnte, das glaube ich bestimmt. Warum schreibst du nicht einfach an den Franzosen, wie heißt er?“
„Ich werde schreiben. Es wird sich zeigen, ob der Gesuchte mein Vater war. Wenn ich nicht schreibe, werde ich keine Ruhe mehr finden!“
So großartige Vorbereitungen zum Schreiben ihres Briefes wie Marcel auf der anderen Seite des Rheines traf Julia nicht. Sie schrieb:
Sehr geehrter Monsieur S.,
auf Ihre Anzeige in unserer Dresdner Zeitung teile ich Ihnen mit, dass mein Vater, Dr. med. Paul Seidel, geb. 1. 9. 1905 in Olbernhau in Sachsen, während des Zweiten Weltkrieges als Stabsarzt tätig war. Vor dem Krieg hat er in Dresden in einer eigenen Praxis gearbeitet, 1940 wurde er eingezogen und ist zwei Jahre in Mühlberg gewesen. Aus dieser Zeit ist mir bekannt, dass er öfter mit der Leitung von Lazarettzügen betraut war. 1942 wurde er an die Ostfront versetzt. Am 18. 4. 1945 ist er bei Pillau gefallen.
Die Nachricht von seinem Tode erreichte uns erst 1948. Wir selbst wurden am 13. Februar 1945 beim Bombardement auf Dresden total ausgebombt.
Mein Vater war circa 1,70 m groß, hatte eine normale Figur. Als äußerliche Merkmale möchte ich eine leicht vergrößerte Nase, leicht fliehendes Kinn und eine Zahnlücke oben rechts nennen. Mein Vater war Pfeifenraucher.
Ich werde Ihnen eine Photographie aus dem Jahre 1936 schicken. Leider braucht der Photograph zehn Tage, um einen Abzug herzustellen.
Freundliche Grüße
Julia S.
Zwei Tage darauf klingelt es an der Wohnungstür. Da steht der Fleuropbote mit einem riesengroßen Blumenstrauß. „Für mich?“, fragt Julia ungläubig. Die Töchter pflegen ihr keine so große Sträuße zu schicken. Hat sie etwas vergessen? Hochzeitstag, irgendein Jubiläum? Die ungezählten Blütenzweige irritieren sie, noch niemals in ihrem Leben hat sie solch einen riesigen Strauß geschenkt bekommen.
„Die Blumen wurden in Frankreich bestellt“, sagt der Bote.
Der Blumengruß kam von Marcel. Sein Brief erreichte sie ein paar Tage später, es war ein wundervoller Brief. Er begann in deutsch, aber dann mischten sich französische Worte hinein, und allmählich ging er ganz ins Französische über.
Dem ersten werden viele Briefe folgen, sie füllen eine ganze Mappe. Es sind freudige Briefe, kritische, dankbare, charmante. Sie alle zeugen von einem glücklichen Schreiber jenseits des Rheins.
Eine neue Freundschaft
„Montag und Donnerstag habe ich keine Zeit“, sagt Julia. „Montag Abend pünktlich 21 Uhr ruft Marcel an, da muss ich zu Hause sein!“
Er ruft jeden Montag an, seit fünf Jahren. Am Telefon spricht er deutsch. Sie reden über vieles. Nach dem anfänglichen Wissensaustausch sprechen sie selten über den, der sie zusammenführte. Es ist eine neue Freundschaft entstanden, eine, die über den Tod hinausgeht. Marcel hat problemlos an die einstigen Gespräche mit seinem Stabsarzt angeknüpft und führt sie mit dessen Tochter fort. Die Themen sind mannigfaltig. Noch immer spricht er gern über die Poeten und die Philosophen. Mit den Philosophen hat Julia ein wenig Schwierigkeiten, davon hat sie in ihrer Schulzeit wenig erfahren. Sie muss sich belesen, bilden, damit sie mit Marcel diskutieren kann.
Sie lernt französisch. Donnerstag ist Volkshochschulkurs. Marcel verfasst seine Briefe in seiner Muttersprache. Julia hat in den fünf Jahren ihrer Korrespondenz fleißig gelernt, sie kann sie übersetzen. Es sind französische Briefe, klangvoll, blumig, höflich, schmeichelnd. Marcel schreibt: „Ihre Briefe sind echte Schalen von Champagner!“ Diese Korrespondenz belebt ihn, macht ihn jung.
Ich bin mit Julia nach Mühlberg gefahren, nicht nach Mühlberg, sondern zum kleinen Friedhof des benachbarten Dorfes. Langsam wandern wir um die heckenumsäumten Rasenflächen, auf denen je drei schlichte schwere Steinkreuze klagen, zum wuchtigen sandsteinenen Denkmal. Noch während des Krieges ist es von den Franzosen für ihre verstorbenen Landsleute errichtet worden, deren Zahl sich bis Kriegsende auf etwa 350 erhöhen sollte. 1944 wurde es geweiht, mit einer Urne französischer Erde, die in den deutschen Boden versenkt wurde.
In der winzigen Kapelle steht noch das Holzkreuz, das man den Beisetzungen vorantrug. Eine Tafel erinnert an die 3000 Kriegsgefangenen der unterschiedlichsten Nationalitäten, die in der Gefangenschaft den Tod fanden und an dieser Stätte beigesetzt wurden.
Ich denke an Roman. Roman, der seine Bilder mit den Friedenssymbolen nicht malen konnte, weil er Soldat sein, weil er sterben musste. Ich hoffe so sehr, dass andere es für ihn tun werden, für uns alle.
„Nach dem Kriegsende sind die Gebeine vieler Toter, darunter aller Franzosen, exhumiert und in ihre Heimatländer gebracht worden“, sagt Julia leise. „Das Denkmal ist heute Erinnerungs- und Gedenkstätte für die in der Gefangenschaft Gestorbenen aller Nationalitäten!“
„Dreitausend Menschen allein an diesem Ort, deren Schicksale wir nicht kennen, die niemand je erfahren wird! Jeder Tod hat seine eigenen Geschichte, die immer auch eine Geschichte des Krieges ist“, erwidere ich nachdenklich. Ich denke an die fast 7000 Toten im verborgenen Gräberfeld am Lagerand, die man nach dem Ende des Krieges dort verscharrte. Wie viele Freundschaften hätten es sein können, wie viel Leid hätte verhindert werden können!
„Wir sollten die eine Geschichte, die wir erfahren haben, allen Opfern widmen“, sagt Julia leise. Schweigend verlassen wir den Friedhof.
Und ich sehe vor mir das aufgeschlagene Buch. Auf der linken Seite steht das angefangene Lied des Franzosen Marcel, auf der rechten Seite das angefangene Lied des Deutschen Paul. Als sie einander begegneten, geschah es nicht freiwillig, denn es war Krieg.
Als sie einander begegneten, erkannten sie, dass es die gleiche Melodie hatte und dass es Europa war.
Anlage
Auszüge aus
„Bekanntmachung über das Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde und das Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen“
vom 29. März 1934
Artikel 2
Die Kriegsgefangenen unterstehen der Gewalt der feindlichen Macht, aber nicht der Gewalt der Personen oder Truppenteile, die sie gefangen genommen haben.
Sie müssen jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier geschützt werden.
Artikel 4
Der Staat, in dessen Gewalt sich die Gefangenen befinden, ist verpflichtet, für ihren Unterhalt zu sorgen.
Artikel 7
Die Gefangenen sind in möglichst kurzer Zeit nach ihrer Gefangennahme nach Sammelstellen zu bringen, die vom Kampfgebiet genügend weit entfernt sind, so dass sie sich außer Gefahr befinden.
Artikel 8
Die Kriegführenden sind verpflichtet, einander die Gefangennahme in möglichst kurzer Frist mitzuteilen. Ebenso sind sie verpflichtet, einander anzugeben, wohin die Angehörigen Briefe an die Kriegsgefangenen zu richten haben.
Artikel 9
Die Kriegsgefangenen können in Städten, Festungen oder anderen Orten untergebracht werden, mit der Verpflichtung, sich nicht über eine bestimmte Grenze hinaus zu entfernen. Sie können gleichsam in eingezäunten Lagern untergebracht werden: dagegen ist ihre Einschließung oder Beschränkung auf einen bestimmten Raum nur statthaft als unerlässliche Sicherungs- oder Gesundheitsmaßnahme und nur vorübergehend während der Dauer der Umstände, welche die Maßnahme möglich machen.
Die Kriegführenden haben die Zusammenlegung verschiedener Rassen und Nationalitäten in ein Lager möglichst zu vermeiden.
Artikel 10
Die Kriegsgefangenen sind in Häusern oder Baracken unterzubringen, die jede mögliche Gewähr für Reinlichkeit und Zuträglichkeit bieten. Die Räume müssen vollständig vor Feuchtigkeit geschützt, genügend geheizt und beleuchtet sein. Gegen Feuersgefahr müssen alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen sein.
Artikel 11
Die Verpflegung der Kriegsgefangenen hat in Güte und Menge derjenigen der Ersatztruppen gleichwertig zu sein.
Artikel 13
Die Kriegführenden sind verpflichtet, alle nötigen Hygienemaßnahmen zu treffen, um die Reinlichkeit und Zuträglichkeit der Lager zu gewährleisten und Massenerkrankungen vorzubeugen.
Außerdem und unbeschadet der Benutzung von Bädern und Brausen, mit denen die Lager so weit als möglich zu versehen sind, ist den Kriegsgefangenen zur Reinhaltung ihres Körpers ausreichend Menge Wasser zur Verfügung zu stellen. Die Kriegsgefangenen müssen Gelegenheit zu körperlichen Übungen und zum Aufenthalt in freier Luft erhalten.
Artikel 14
Jedes Lager hat eine Krankenstube, in der den Kriegsgefangenen jede Art Pflege zuteil wird, deren sie bedürfen. Erforderlichenfalls sind Absonderungsräume zur Aufnahme Kranker mit ansteckenden Krankheiten bereitzuhalten.
Die Kriegführenden sind verpflichtet, jedem behandelten Gefangenen auf Verlangen eine amtliche Bescheinigung auszuhändigen, auf der Art und Dauer seiner Krankheit sowie die empfangene Behandlung verzeichnet ist.
Schwer Erkrankte oder solche Gefangenen, deren Zustand einen erheblichen chirurgischen Eingriff nötig macht, müssen auf Kosten des Gewahrsamstaates in jedem Militärlazarett oder Zivilkrankenhaus Aufnahme finden, das zu ihrer Behandlung geeignet ist.
Artikel 15
Ärztliche Untersuchungen der Gefangenen sind mindestens einmal im Monat einzurichten. Sie dienen dazu, den allgemeinen Gesundheits- und Reinlichkeitszustand zu prüfen, sowie ansteckende Krankheiten namentlich Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten ausfindig zu machen.
Artikel 18
Jeder Kriegsgefangene wird einem verantwortlichen Offizier unterstellt. Außer den Ehrenbezeugungen, welche die Kriegsgefangenen nach den in ihren Heeren geltenden Vorschriften ihren eigenen Staatsangehörigen erweisen müssen, sind sie allen Offizieren des Gewahrsamstaates militärischen Gruß schuldig.
Artikel 20
Vorschriften, Befehle, Anweisungen und Bekanntmachungen aller Art müssen den Kriegsgefangenen in einer Sprache bekannt gegeben werden, die sie verstehen. Derselbe Grundsatz ist bei Vernehmungen anzuwenden.
Artikel 27
Die Kriegführenden können die gesunden Kriegsgefangenen, ausgenommen Offiziere und Gleichgestellte, je nach Dienstgrad und Fähigkeit als Arbeiter verwenden. Die Kriegführenden sind verpflichtet, den durch Arbeitsunfälle zu Schaden gekommenen Kriegsgefangenen während der ganzen Dauer der Gefangenschaft die Bestimmungen zugute kommen zu lassen, die nach der Gesetzgebung des Gewahrsamstaates auf die Arbeiter derselben Kategorie anwendbar ist.
Artikel 28
Der Gewahrsamstaat übernimmt die volle Verantwortung für Unterhalt, Versorgung, Behandlung und Entlohnung der Kriegsgefangenen, wenn sie für Rechnung von Privatpersonen arbeiten.
Artikel 34
Die Kriegsgefangenen erhalten für die zur Verwaltung, Bewirtschaftung und Unterhaltung der Lager nötigen Arbeiten keinen Lohn.
Artikel 68
Die Kriegführenden sind verpflichtet, schwerkranke und schwerverwundete Kriegsgefangene, nachdem sie sie transportfähig gemacht haben, ohne Rücksicht auf Dienstgrad und Zahl in ihre Heimat zurückzusenden. Deshalb sind sobald als möglich durch Vereinbarung zwischen den Kriegführenden die Gebrechen und Krankheiten zu bestimmen, die eine unmittelbare Heimsendung begründen.
Artikel 69
Bei Kriegsbeginn verständigen sich die Kriegführenden über die Ernennung gemischter Ärztekommissionen. Diese Kommissionen bestehen aus 3 Mitgliedern, von denen 2 einem neutralen Lande angehören und eines von dem Gewahrsamstaat bestimmt wird. Diese gemischten Ärztekommissionen untersuchen die kranken und verwundeten Gefangenen und treffen ihretwegen alle nötigen Entscheidungen.
Artikel 76
Die Kriegführenden werden dafür sorgen, dass die in der Gefangenschaft verstorbenen Kriegsgefangenen in würdiger Weise bestattet, die Gräber mit allen nötigen Angaben versehen, geachtet und angemessen unterhalten werden.
Anlage zum Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen
A. Leitende Gesichtspunkte für die Heimsendung
Es werden unmittelbar heimgesandt:
1. Kranke und Verwundete, deren Wiederherstellung nach ärztlicher Voraussicht innerhalb Jahresfrist nicht erwartet werden kann, wenn ihr Zustand Behandlung erfordert und ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in erheblichem Maße beeinträchtigt erscheint.
2. unheilbar Kranke und Verwundete, deren geistige und körperliche Leistungsfähigkeit in erheblichem Maße beeinträchtigt scheint.
3. geheilte Kranke, deren geistige und körperliche Leistungsfähigkeit in erheblichem Maße beeinträchtigt scheint.
Besondere Gesichtspunkte für die Heimsendung
1. Alle verwundeten oder verletzten Kriegsgefangenen, deren Zustand ein Siechtum bedeutet, dessen Heilung nach ärztlichem Ermessen innerhalb Jahresfrist nicht zu erwarten ist
2. Alle Kranken, deren Zustand ein Siechtum bedeutet, dessen Heilung nach ärztlichem Ermessen in Jahresfrist nicht zu erwarten ist.
In diese Kategorie fallen:
a) fortgeschrittene Tuberkulose irgendwelcher Organe
b) nichttuberkulöse Erkrankungen voraussichtlich unheilbarer Natur der Atmungsorgane
c) schwere chronische Erkrankungen der Zirkulationsorgane (so Herzklappenfehler mit Neigung zu Kompensationsstörungen, schwere Herzmuskel-, Herzbeutel- und Gefäßerkrankungen insbesondere inoperable Aneurismen großer Gefäße
d) schwere chronische Erkrankungen der Harn- und Geschlechtsorgane
f) schwere chronische Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems, Blindheit beider oder Blindheit eines Auges.
Die oben festgesetzten Bedingungen sollen im allgemeinen in weitherziger Weise ausgelegt und angewendet werden. Die Weitherzigkeit der Auslegung soll für die Tuberkulose in allen Stadien angewendet werden.
© Sigrid Drechsler (*1934)
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