Am zehnjährigen Gedenktage des Frankfurter Friedens

10. Mai 1881.

Das war ein Maitag, wie ihn nimmer
Ein deutsches Auge noch erschaut!
Ein blendend Meer von Blütenschimmer,
Von lichtem Himmel überblaut!
Vom Main her scholl die Friedenskunde
Hinein in all‘ das Lenzeswehn –
Die Glocken priesen in der Runde
Des deutschen Reiches Auferstehn.

Und heut? – Zehn Jahre Kampf und Streben –
Wie mühsam dünkt der Weg und weit!
Was aber gilt im Völkerleben
Solch‘ winzig kurze Spanne Zeit?
Um künft’ge Früchte heißt es werben;
Und fiel auch mancher Blüte Pracht,
So reicher Frühling kann nicht sterben
In einer einz’gen frost’gen Nacht.

O seht des Lenzes rastlos Walten!
Die ew’ge Sonne niederscheint –
Wie klein, mein Volk, was dich gespalten,
Wie groß, was dauernd dich vereint!
Der einstigen Begeistrung Brände,
O wecke sie, Erinnrungsgruß:
Die Schwerter fort! Reicht euch die Hände
Und feiert neuen Friedensschluss!


Ernst Scherenberg (1839-1905), 1881