HÖRE, ISRAEL
1.
Nicht als Fremder und nicht als Feind
von Hass gegen euch entzündet
ich spreche als einer von euch
der auch Irrwege kennt
In den Gaskammern und in den Öfen
wo eure Familien vergingen
wurden auch meine Verwandten
vergast und verbrannt
Seither kämpfe ich gegen das
was dahin geführt hat
gegen die Mächte
die Hitler zur Macht verhalfen
Sie sind noch nicht verschwunden
von dieser Erde
und was tut i h r?
Ihr laßt euch von ihnen fördern
2.
Sie wollen das gleiche von euch
was sie von Hitler wollten:
Ihr sollt Vorposten sein
für ihre Ordnung der Welt
Darum muss ich das Bittere sagen
in eure Ohren
die ihr im Unrecht verstopft
wie zur Zeit der Propheten
Auch wenn es bitter schwer ist
auch wenn ihr es mit Bitterkeit heimzahlt
aber ihr sollt nicht sagen können
das sagten euch nur eure Feinde
und später soll es nicht heißen;
Zur Zeit als die Juden noch siegten
sprach keiner von ihnen
gegen ihr eigenes Unrecht
3.
Ihr habt in Europa
die Höllen der Höllen erlitten
Verfolgung Vertreibung
langsamen Hungertod
die Gewalt der Mörder
die Hilflosigkeit eurer Schwäche
die Urform des Unrechts
das nichts als die eigene Macht kennt
Ihr habt eure Henker
beobachtet und von ihnen
den Blitzkrieg gelernt
und die wirksamen Grausamkeiten
Was ihr gelernt habt
das wollt ihr jetzt weitergeben
Kinder der Zeit des Unrechts
erzogen in seinem Bild
4.
Ihr seid tüchtige Pflanzer geworden
ihr habt die Wüste bewässert
doch die Armen die vor euch dort wohnten
die habt ihr weg gedrängt
Eure Gönner die Saatgut schickten
und Geld für eure Arbeit
und Waffen für eure Macht
sehen: die Saat geht jetzt auf
Nicht nur Pflanzen:
An Stelle des ungerechten
Hasses der euch verfolgt hat
sät ihr heute gerechteren Hass
Ich wollte nicht
dass ihr im Meer ertrinkt
aber auch nicht dass andre durch euch
in der Wüste verdursten
Als ihr verfolgt wurdet
war ich einer von euch
Wie kann ich das bleiben
wenn ihr Verfolger seid?
5.
Ihr habt nicht von den Völkern gelernt
sondern von ihren Herren
Ihr seid nicht mehr Opfer der andern:
ihr selbst wollt andere opfern
eurer vergänglichen Macht
von der ihr glaubt sie genügt
um den Armen ihr Land zu nehmen
auf dem sie saßen
6.
Ihre Gesichter
sind euren Gesichtern ähnlich
ihre Sprache
ist eurer Sprache verwandt
Auch sie taten manchmal Unrecht
Nicht alles ist schwarz oder weiß
Ihr beide seid gebrannt
von der selben Sonne
Aber euer Unrecht war größer
denn ihr habt euch Land geben lassen
von denen die kein Recht hatten
es euch zu geben
Zwar ihr selbst wart bedrückt wo ihr herkamt
mehr als andere Kolonisten
doch die Armen im Land das ihr nahmt
waren nicht schuld daran
Zwar ihr selbst wart arm
aber immer noch reich gegen die
deren Boden ihr kauftet
fast wie Yankees einst den der Indianer
7.
Kehrt um! kehrt um!
Die euch Geld oder Waffen gaben
werden nicht immer da sein
um euch zu schützen
Umkehren wird nicht leicht sein:
Der Hass der Armen lebt lange
und viele wünschen euch das
was einst ihr euren Peinigern wünschtet
Doch euch bleibt kein anderer Weg
euch die Zukunft zu öffnen
wenn es nicht eine Zukunft
der ewig Verhassten sein soll
Kehrt um! kehrt um!
Die euch Geld oder Waffen geben
brauchen euch nur als Söldner
gegen die Zukunft
gegen das Ende der Ausbeutung
gegen die Hoffnung der Armen
gegen die Völker
die eure Brüder sein sollten
8.
Zwar unter denen sind solche
die haben gerufen:
„Alle Juden ins Meer!“
Das sind keine Stimmen der Zukunft
Aber vergesst nicht
es sind nicht alle dasselbe
so wie auch bei euch nicht alle
dasselbe denken
In Ägypten und Syrien
waren andere Kräfte am Werk
als in den Palästen
Arabiens oder Jordaniens
9.
Die Könige riefen zum Hass auf
Sie kennen kein anderes Mittel
ihre Untertanen
an zu stacheln zum Kampf
doch auch die Feindschaft der anderen
habt ihr erworben
Ihr seid nicht schuldlos daran
dass sie gegen euch sind
Und vergesst auch nicht:
In New York in Hamburg und London
schrieben die Zeitungen
freundlicher über die
aus deren Ländern die Rufe
zum Völkermord kamen
über Feisal und Hussein
als über Ägypten und Syrien
Denn die Könige wollen sie stützen
aber die Länder die sich mühsam
hin tasten zum Sozialismus
zu Falle bringen
Und dazu sollt ihr ihnen dienen
mit Haut und Haaren
mit eurem ganzen Vermögen
von dem sie euch etwas ersetzen
10.
Wenn ihr euch nicht zu gut seid
für diese Rolle
nicht zu tüchtig und nicht zu klug
nicht zu menschlich und unabhängig
dann werdet ihr abhängen
von den dürren Trägern des Unrechts
wie ein Gehenkter abhängt
von seinem Galgen
als warnendes Beispiel
wohin die Tapferkeit führt
und die Tüchtigkeit wenn sie verführt ist
dem Unrecht zu dienen
11.
Ich sage das nicht für die
die euch immer schon Feinde waren
und nur neue Vorwände suchen
für ihren alten Hass
auch nicht für die unter euch
die lernten von ihren Hassern
sich selbst zu hassen
oder sich hässlich zu finden
Doch ich sage das gegen die
die sich heute erschaffen wollen
nach dem Ebenbild ihrer Vernichter
um selbst Vernichter zu werden
denn wenn die euch beherrschen
vernichten sie trotz ihrer Siege
zuletzt sich selbst
wie das eure Vernichter taten
Und ich sage das auch
gegen die falschen Freunde
die eure Not benützen
um euch tiefer in Schuld zu verstricken
Gegen die die euch vor treiben wollen .
bis es zur Umkehr zu spät ist
um ihre Zwecke zu fördern
mit eurem Blut
12.
Ihr habt die überlebt
die zu euch grausam waren
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?
Eure Sehnsucht war so zu werden
wie die Völker Europas
die euch mordeten
Nun seid ihr geworden wie sie
Den Geschlagenen habt ihr befohlen:
„Zieht eure Schuhe aus!“
Wie den Sündenbock habt ihr sie
in die Wüste getrieben
in die große Moschee des Todes
deren Sandalen Sand sind
doch sie nahmen die Sünde nicht an
die ihr ihnen auflegen wolltet
Der Eindruck der nackten Füße
im Wüstensand
überdauert die Spur
eurer Bomben und Panzer
Erich Fried (1921-1988), "Höre Israel - Gedichte Gegen Das Unrecht"