Prolog
Menschen sind Brüder!
Du bist ich!
Eine Erde ist unser Land!
Bruder, mein Bruder, gib mir die Hand!
Menschen sind Brüder und wissen es nicht,
Hassen einander und helfen sich nicht,
Heben heuchelnd zu Gott ihr Gesicht.
Du sahst es nicht, wie Dein Vater starb,
Du hörtest den Sohn nicht brüllen vor Schmerz,
Du weintest so heiß, als Dein Glück verdarb,
Und anderen war es Lust und Schmerz:
Den andern, die vom Kriege lebten
Und Land und Ehre und Geld erstrebten,
Die sicher saßen und mutig taten
Und den lieben Gott um Victoria baten.
Menschen sind Brüder! Was soll der Krieg?
Auf Leichenfeldern modert der Sieg.
In Tränenströmen versinkt das Glück,
Die Besten, sie kehrten nicht mehr zurück.
Du willst, dass das Elend noch einmal komme?
Wem soll es dienen, wem soll es taugen?
Der ganze Wahnsinn: Verdun und die Somme
Und die Millionen von toten Augen?
Die heilige Erde war blutbegossen,
Es dampfte vom Himmel vom öden Feld,
Ist noch nicht genug an Blut geflossen
Für Fürsten und Herren und Macht und Geld?
Menschen sind Brüder! Nieder die Waffen!
Wir wollen Werke der Liebe schaffen.
Über den Rhein die Bruderhand!
Besser dient keiner dem Vaterland.
Du bist ich! Dein Land ist meines.
Glück, das mir gilt, ist auch Deines.
Raum genug hat unsere Erde,
Dass uns beiden Ernte werde.
Du bist ich! Aus unserem Sterben
Wollen die Priester des Krieges erben.
Hetzen und schreien. Es mag ihnen passen,
Wenn wir uns morden, wenn wir uns hassen.
Du bist ich! Nach Krieg und Not
Hebt sich empor ein Morgenrot.
Rufen - hüben und drüben vom Rhein -
Tönt in die hassende Welt hinein:
Rufen vom Bruder zum Bruder hin,
Brüder im Osten und Westen vom Rhein,
Brüder, Brüder lasst uns endlich uns sein!
Franz Carl Endres (1878-1954), aus "Anderen Deutschland", Nr. vom 1.08.1931