Roland Rottenfußer - Wehrpflicht – systematische Demütigung bleibt „unverzichtbar“
"Die Wehrpflicht ist eine Kriegserklärung gegen die seelische Integrität von Millionen Männern. Wer sie im befriedeten Europa noch verteidigt, möchte das Militär in seiner „erzieherischen“ Funktion bewahren. Blinder Gehorsam und Unterordnung sind noch immer erwünschte Staatsbürgertugenden."
Roland Rottenfußer (*1963)
„Die komplette Abschaffung der Wehrpflicht kommt nicht in Frage“, sagte einmal Kult-Kriegsminister zu Guttenberg. Wehrplicht abschaffen, Wehrpflicht verkürzen, Wehrpflicht bleibt … So spielt die Politik mit der Lebenszeit junger Männer. Wenn überhaupt jemals Zweifel an dem hehren Kulturgut aufkamen, dann wegen knapper Kassen. Denn selbst Sklavenhaltung geht mitunter ans Geld (und das ist die Wehrpflicht de facto, denn der karge Wehrsold entspricht ungefähr dem Kindergeld, das Eltern von Wehrplichtigen abgezogen wird, wenn der Bub für Deutschland stramm steht). Aber so prekär die Staatsfinanzen auch sein mögen: Für das, was der hohen Politik wirklich am Herzen liegt, muss Geld da sein – irgendwie.
Und dazu gehört eben systematische Demütigung junger Männer, denn um nichts anderes handelt es sich bei militärischen Unterwerfungsritualen. Bei keinem Kommentatoren, nicht einmal bei Wehrpflicht-Gegnern, habe ich jemals etwas wie Einsicht in die Tatsache gefunden, dass es lächerlich und erniedrigend ist, roboterhaft Befehle wie „Stillgestanden!“, „Die Augen links!“ oder „Rührt euch!“ auszuführen. Oder seine Unterhemden im Rahmen einer „Spindordnung“ in bestimmter vorgeschriebener Weise zu falten und sich dumm anreden lassen zu müssen, wenn man es nicht richtig macht. Wer diesen und ähnlichen Methoden der „Formalausbildung“ ausgesetzt war, verliert mitunter mit einem Schlag den Respekt vor seinem Staat – und, was schlimmer ist: den Respekt vor sich selbst. Auf den legen die staatliche Organe aber auch gar keinen Wert, ihnen genügt Gehorsam und formales „Funktionieren“, so widerwillig es auch sein mag. Macht agiert sich ihrer Natur nach im Widerspruch zum Willen des ihr Unterworfenen aus. Sonst wäre es ja keine Macht, sondern Überzeugungsarbeit.
Volksabstimmung über Wehrpflicht?
In der Schweiz liefen bereits zwei Unterschriftenaktionen zur Abschaffung der Wehrpflicht, bei dem das Votum jeweils für die Beibehaltung der Armee verlief. Glückliche Schweizer! Sie „dürfen“, was uns nach wie vor verwehrt bleibt. In Umkehrung des Verfassungsgrundsatzes, dass alle Gewalt vom Volk ausgeht, werden Freiheiten immer noch als etwas von der Obrigkeit Gewährtes interpretiert. Aber immerhin, stellen wir uns vor, wir „dürften“ über die Wehrpflicht, über Afghanistan abstimmen! Da bekreuzigen sich Politiker und zur Hofberichterstattung abgestellte Mainstream-Medien dreimal. Von demokratiefernen Zeitungskommentatoren (z.B. „Weilheimer Tagblatt“) wird immer wieder vor Volksabstimmungen gewarnt. Die Argumentationslinie ist immer dieselbe: „Volksabstimmungen auf Bundesebene darf es nicht geben, denn sonst könnte das Volk ja Entscheidungen treffen, die seinen eigenen Interessen zuwider laufen (sprich: die mir, dem Kommentator nicht gefallen).“ Womöglich dürften dann junge Männer, statt stramm zu stehen, gleich in ihren Beruf oder ins Studium starten (wie Frauen ja auch). Oder „humanitäre Einsätze“ wie der in Afghanistan müssten abgeblasen werden. Nicht auszudenken!
Dabei ist es offensichtlich, dass Kriege heute nicht um der Humanität willen, sondern um Macht, Märkte und den Zugriff auf Ressourcen geführt werden. Wäre dies anders, müsste die von den USA geführte Staatengemeinschaft in der halben Welt einmarschieren – auch in den USA selbst. Der Theologe und Kriegsgegner Eugen Drewermann, schrieb: „Der Krieg ist in seinem ganzen Wesen die Zerstörung und die Aufhebung aller menschlichen Gesetze. Umso aberwitziger ist es, ihn zur Erreichung von vermeintlich humanen Zielen zu rechtfertigen oder zu instrumentalisieren. Man kann nicht durch einen See von Blut hindurch die Friedenstaube rufen.“ Humane Fortschritte sind im besten Fall ein Nebenprodukt der globalen Macht- und Ressourcenkriege, niemals deren Hauptzweck. Meistens wurden sie mit einem viel grösseren Rückschritt, dem Rückfall in die finsterste Barbarei erkauft. Das US-amerikanische Forschungsinstitut „Just Foreign Policy“ schätzt, dass im Irakkrieg seit 2003 bis 2010 über 1.300.000 Menschen ums Leben kamen.
Bomben für die Humanität
Bevor sich, wenn überhaupt, positive Kriegsfolgen zeigen, hat die blosse Existenz des Militärapparats überall auf der Welt entsetzliches Unheil angerichtet. Die globalen Militärausgaben wurden von Amnesty International für das Jahr 2013 auf 1,7 Billionen Dollar beziffert. Dieses Geld fehlt natürlich für humane Ziele, für den Kampf gegen Hunger, Krankheit und Unterentwicklung. Dazu Drewermann: „Wer von humanitärer Verantwortung redet, die es verlangt, sich kriegsbereit zu halten, der muss sich sagen lassen, dass Millionen Menschen heute noch leben könnten, wenn wir nicht Milliarden Mark für immer neue Waffen zum Töten ausgeben würden.“
Wozu sind also Kriege da?
Schon alte Winnetou-Filme vermittelten eine einfache Weisheit: Die einzigen, die einen Krieg wirklich wollen, sind die Waffenhändler. „Nichts fürchten die Waffenhändler mehr als den Frieden“, heisst es in dem Antikriegsfilm „Lord of War“ mit Nicholas Cage. Sobald ein Ding zur Ware wird, unterliegt es den Gesetzen der Profitmaximierung. Zwei Völker, die einander in Angst und Hass gegenüberstehen, sind bessere Waffenkunden als zwei friedliebende Nationen, die sich respektieren. Die hoch gelobte „unsichtbare Hand des Marktes“ erweist sich auf dem Rüstungssektor als die Hand eines millionenfachen Massenmörders. Jean Jaurès, ein französischer Sozialist und Pazifist, der 1914 ermordet wurde, sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“
Räume reduzierter Menschenwürde
Einer der wichtigsten Einwände gegen das Militär ist aber das Militär selbst. 1926 verfasste eine internationale Gruppe prominenter Unterzeichner – unter ihnen Gandhi, Einstein und Betrand Russel – ein gemeinsames Manifest gegen die Wehrpflicht. Darin steht: „Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und dem menschlichen Tun.“ Eine ernsthafte Diskussion über den Sinn und Zweck militärischen Drills findet bis heute nicht statt. Dabei ist offensichtlich, dass die Toten des Luftangriffs von Kundus (Afghanistan) heute noch leben könnten, hätten Kampfflieger den Befehl verweigert.
Die allgemeine Wehrpflicht ist eine relativ junge „Errungenschaft“, die sich erst nach der französischen Revolution in Europa durchsetzte. Vorher setzte man auch in kriegerischen Zeiten auf Berufs- oder Söldnerheere. Nicht so in „Europas längster Friedensperiode“. Warum diese beharrliche Treue der Nachkriegsdemokratien zur Wehrpflicht? Jahrzehnte lang, musste der drohende „Einmarsch der Russen“ als Vorwand herhalten. Doch die Begründung greift heute nicht mehr. Kaum war „der Russe“ freundschaftlich einverleibt, taten sich anderswo Abgründe auf, die ausgerechnet unser Land zur militärischen Intervention „zwangen“. Es war immer so und wird vielleicht immer so bleiben: Ein absurdes System schafft sich die Vorwände, die seine Weiterexistenz rechtfertigen, immer wieder selbst. Der Verdacht drängt sich auf, dass die in der Militärausbildung gezüchteten Eigenschaften – bedingungslose Unterordnung, Gehorsam und emotionale Verwahrlosung – „Tugenden“ sind, die auch im zivilen Leben als nützlich gelten. Der Schock macht gefügig.
Militär und Militärausbildung sind das dunkle, peinliche „Geheimnis“ aller Staaten. Sie existieren im Schattenbereich der Demokratien und strafen jede Menschenrechtserklärung, jedes Politiker-Gerede von Freiheit Lügen. Denn eine Verfassung, die Ausnahmen von der Menschenwürde zulässt, hat sich bereits von Naturrechts-Gedanken verabschiedet. Eine solche Verfassung trägt den Keim zu ihrer Demontage schon in sich und öffnet ein Einfallstor für weitere Einschränkungen der Bürgerrechte. In den Kasernen und auf den Übungsplätzen der Armeen werden Menschen gedemütigt, gebrochen und zu Werkzeugen gemacht. Sie werden dahin gebracht, wie Automaten Tätigkeiten zu verrichten, gegen die sich ein intakter Charakter zu Recht sträuben würde. Es geschieht überall, mitten unter uns, Tag für Tag. Und die meisten dulden es, weil sie das Gerede der Politiker von „nationaler Sicherheit“ glauben. Oder weil sie nicht genauer hinsehen wollen.
Wer einmal gebrochen wurde, weil ihm der Preis des Widerstands zu hoch erschien, der trägt lebenslänglich eine latente Scham mit sich herum. Die Scham, sich selbst als feige und unterwürfig erlebt zu haben, wo der natürliche Stolz offenen Widerstand geboten hätte. Um diesen Zwiespalt auszuhalten, kommt es oft zu einer ungesunden Identifikation mit den Tätern. Man kennt das Phänomen auch als „Stockholm-Syndrom“, ein Verhalten, das man bei Entführungsopfern festgestellt hat. Die Täter werden als Vaterfiguren idealisiert, zu denen man mitten im Leiden Zuflucht nehmen kann, obwohl gerade sie dieses Leid verursacht haben. Der Psychologe Arno Gruen spricht auch von „Identifikation mit dem Aggressor“. Ein ähnliches Verhalten zeigt sich bei Staatsbürgern, die zu Untertanen regrediert sind. Woher kommt die Duldungsstarre der Völker, die unter der Knute eines neuen Feudalismus stöhnen? Vielleicht von dem lähmenden Schock, der entsteht, wenn man mit negativen, eigentlich unfassbaren Informationen über „seinen“ Staat überflutet wird. „Vater Staat“, den man ja eigentlich achten will und von dem man Schutz und Orientierung erhofft.
Den Widerstand des Volkes brechen
Ich behaupte, dass Bürger durch den Militärdienst seit Jahrhunderten für ihre Rolle als „Leibeigene“ in unterschiedlich ausgeprägten Feudalsystemen zugerichtet werden. Offiziell soll die Wehrpflicht, das Prinzip des „Bürgers in Uniform“, heute die Demokratie in die Armee bringen. Stattdessen breitete sich das Militär in der Demokratie aus, züchte „Soldaten in Anzug und Blaumann“. Militärische Denk- und Verhaltensmuster durchdringen das Zivilleben – wenn auch in subtiler Form („dem Chef gehorcht man“). Der von Aktivisten beklagte fehlende Widerstand gegen die Zumutungen der Politik könnte eine seiner Ursachen in Militarisierung der Denkstrukturen haben, die – zumindest bei Männern – im Grundwehrdienst eingeübt wurde. Das heisst auch, dass dessen Abschaffung strategische Bedeutung hätte. Es könnte sich langfristig auch im Zivilleben ein freierer, autonomer Geist entwickeln.
Der gewaltlose Kampf um mehr Menschlichkeit muss immer auch ein Kampf gegen das Militär und seine Denkstrukturen sein. Ist dazu ein radikaler Pazifismus nötig oder genügt, es die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu fordern? Ich glaube, dass man ein System, das man grundsätzlich verabscheut, nicht für eine Minderheit von Berufssoldaten befürworten kann. Ganz abgesehen von den höchst fragwürdigen „Zwecken“, für die Armeen heute eingesetzt werden. Von dem Humoristen Gerhart Polt stammt folgende paradoxe Weisheit: „Diese Pazifisten haben ja noch nie einen Krieg verhindert. Oder können Sie mir einen Krieg nennen, den die verhindert haben?“ Dieser satirische Seitenhieb hat einen ernsten Kern. Konsequenter Pazifismus war noch in keinem Land der Erde an der Regierung. Es gibt also fast keine historischen Erfahrungen, die seine Richtigkeit beweisen. Gegner können so leicht von «abenteuerlichen Utopien» sprechen.
Pazifismus – unsere einzige Zukunft
Aber ein historischer Irrtum ist nicht deshalb eine Wahrheit, weil er Jahrtausende alt ist. So wie das Patriarchat nicht deshalb eine grossartigen Gesellschaftsform ist, weil er lange auf der ganzen Welt herrschte. In Höhlenzeichnungen aus matriarchaler Zeit finden sich übrigens keine Bilder von Kriegshandlungen. Zufall? Vielleicht müssen wir in die ferne Vergangenheit blicken, um uns Impulse für die Zukunft zu holen. „Der Pazifismus ist nicht die Utopie von Blauäugigen und ewig Gestrigen“, schreibt Eugen Drewermann, „er war und ist die Antizipation der einzigen Form von Zukunft, die uns Menschen auf dieser Erde beschieden ist.“
Roland Rottenfußer (*1963)