Feinde, Menschen, Brüder, Höret! Es ist genug.
Ihr und wir, wir sind alle mit Blindheit und Wahnsinn geschlagen. Im blinden Wahnsinn haben wir eine Welt zertrümmert.

Ihr und wir, wir haben nur einen Gedanken: leiden machen. Ihr und wir, wir jubeln, wenn Menschen brennend aus den Lüften stürzen, wenn Menschen in der See ersticken, wenn Menschen zerrissen und vergiftet sterben, wenn man sie in Gefangenschaft schleppt. Wir lesen bei Mahlzeiten Dinge, von denen der tausendste Teil uns erstarren machen müsste. Sind wir noch Menschen?

Die vier göttlichen Elemente, Feuer und Luft, Wasser und Erde, haben wir zu zu Werkzeugen des Todes gemacht und das genüge nicht, Gift und Hunger holte man zu Hilfe. Aller menschliche Geist rechnet und grübelt: noch eine neue Streitmacht, noch eine neue Gewalt, noch eine neue Todesart.

Sieben Millionen sind tot, Sieben Millionen mal in fünfzehnhundert Tagen hat der rasend gemachte , gehetzte Tod ein blühendes, hilfloses Menschenherz zerschnitten und mit jedem Schnitt hat er ein zweites liebendes Herz getroffen. Ungezählt sind die Krüppel, die Wahnsinnigen und Gebrochenen; sie ziehen über die Erde und zeugen wider uns und euch. Die Kreuze auf den Feldern strecken ihre Arme aus, die gemordeten Wälder recken ihre verstümmelten Äste, die aussätzige Kruste der Erde, die zertrommelten Städte, sie blicken auf aus erloschenen Augen und zeugen wider uns und euch.

In Erdlöchern, in Schlamm und Wasser hockten unsere Brüder, schützen ihr armen Leiber gegen giftige Dünste, Eisensplitter und Bajonette und trachten nach dem Leben der anderen. Dem Leib der Erde ist die Fruchtbarkeit unterbunden. Bleiche Kinder wachsen auf, bleiche Mütter arbeiten in Fabriken.


Der Wohlstand ist gebrochen, die friedlichen Gewerbe sind tot, die See ist verödet. Was noch geschaffen und geschleppt wird, sind Waffen. In den Städten aber rast der Tanz um das goldene Kalb. Inmitten der Entbehrungen prassende Bereicherte. Die Versuchung wächst, das Gewissen betäubt sich, die Sitte wankt.

Um die Erde kreist eine Gewalt des Hasses, wie der Planet sie niemals trug. Noch immer wächst sie, angefacht durch Rache, Verleumdung, Angst und Verblendung.


Und doch ist die Welt nicht Böse und nicht schlecht; sie ist wahnsinnig und blind. Jeder glaubt, der andere wolle ihn vernichten und solange jeder das vom anderen glaubt, bleibt nichts übrig, als zu kämpfen. Wollte aber jemand auch nur einen Tag länger den Kampf fortsetzen, als Unabhängigkeit, Unberührbarkeit und Lebensraum seines Landes fordern, so wäre er für sich allein, vor Gott und Menschen schuldig am Jammer der Millionen und es wäre ihm besser, dass er nie geboren wäre....


...Ich schwöre euch, es gibt nicht ein einziges Volk auf Erden, das die Vernichtung eines anderen Volkes will und wollen kann. Jedes Volk weiß in seinem inneren Bewusstsein, dass es nur Frieden geben kann und wird: der Friede, der in drei oder in zehn oder in zwanzig Jahren geschlossen werden kann und geschlossen werden soll. Nur versöhnt er nicht mehr lebendige Völker und gesunde Länder, sondern arme, verrohte Krüppel und Stätten der Verwüstung.

Prüft das und wenn es wahr ist, so sprecht es aus. An dem Tage aber, an dem ihr, Völker der Erde, das Wort aussprecht, das einfache, klare, selbstverständliche Wort: Keinem Volke soll seine Unabhängigkeit und sein angestammter Boden geraubt, keinem sollen seine Lebensbedingungen verkürzt werden - an dem gleichen Tage ist der Krieg gebrochen und der Frieden in eurer Hand.

Walther Rathenau (1867-1922), aus "An Deutschlands Jugend", Juli 1918